SAOMAI. June A. Miller

SAOMAI - June A. Miller


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Neill bereits Boden wettgemacht. Doch Saomai stockte der Atem, als hinter ihm zwei weitere Gestalten auftauchten, die ihrerseits Neill verfolgten. Die Typen waren vom selben Schlag wie ihre Kumpel und Saomai begriff mit Entsetzen, dass Neill in einen Hinterhalt lief. Aus Leibeskräften schrie sie seinen Namen. Doch ihre Lungen kollabierten fast von der ungewohnten Anstrengung des Laufens. Ihre Stimme überschlug sich schrill. Neill hatte sie nicht gehört, er drehte sich nicht um.

      Im Gebüsch neben ihr raschelte es. Alarmiert fuhr Saomai herum. Die Kontur eines korpulenten Inders löste sich aus dem tarnenden Dickicht und hielt torkelnd auf sie zu. Der Mann glotzte Saomai aus gelbunterlaufenen Augen an und grapschte nach ihr. Sein Atem stank nach Fäule und Alkohol. Angeekelt wich Saomai zurück. Die schwarze Pranke verfehlte nur knapp ihren Arm. Saomai sah sich gehetzt um. Es gab nur zwei Wege zur Flucht: links dem Sandweg folgen, auf dem Neill verschwunden war. Oder ein kleines Stück weiter rechts die Straße hinauf, die dort auf die belebtere Hauptstraße stieß. Weit würde sie es mit ihrem Fuß nicht schaffen, das war ihr klar. Deshalb entschied sie sich für letzteres. Betrunken, wie der Mann war, hatte sie eine kleine Chance, das kurze Stück die Straße hinauf zu entkommen. Auf der langen Gerade zwischen den Baracken würde er sie jedoch bald einholen und ob ihr dort jemand zu Hilfe kommen würde, war ungewiss. Der Inder hatte sie wieder ins Visier genommen und kam mit gierig ausgestreckter Hand auf sie zu. Dabei lallte er unverständliche Worte. Schaum troff ihm aus dem Mund, lief über sein schmuddeliges Shirt und spritzte auf Saomais Hand. Sie duckte sich unter ihm weg und ließ den Blick hin und her fliegen, um sich zu orientieren. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie sich, vollführte eine Drehung und drückte sich mit ihrem gesunden Fuß vom Boden ab. Das Manöver gelang und sie sprintete in die entgegengesetzte Richtung als ihr Angreifer erwartet hatte. Während er nach links torkelte, stob sie rechts an ihm vorbei. Doch schon nach wenigen Schritten bremste ein Stechen im Sprunggelenk ihren Lauf. Saomai fiel der Länge nach hin. Ihre Handballen platzten auf, als sie versuchte, den Sturz abzufangen. Vor Wut und Verzweiflung schrie sie auf. Auf allen Vieren vorwärts kriechend, wagte sie einen Blick zurück. Der Widerling hatte erst durch ihren Schrei bemerkt, dass sie zu entwischen drohte. Jetzt wankte er nach rechts. Dass sie am Boden lag, schien ihn zu beglücken, denn er lachte und leckte sich die wulstigen Lippen. Die Aussicht, von diesem Kerl begrapscht zu werden – oder Schlimmeres! – verlieh Saomai noch einmal Kraft. Sie wappnete sich gegen den Schmerz in ihrem Fuß, sagte sich, dass er nichts war im Vergleich zu dem, was ihr widerfahren würde, wenn sie liegen blieb. Als er sie fast erreicht hatte, stemmte sie sich hoch und schrie „Verschwinde!“

      Von der Wut ihrer Stimme überrascht, blieb der Mann stehen. Er schwankte bedrohlich. Saomai überwand allen Ekel und gab dem Koloss einen kräftigen Stoß vor die Brust. Ohne das Ergebnis abzuwarten, fuhr sie herum und hechtete los. Den kaputten Fuß schleifte sie hinter sich her wie ein verwundetes Tier. Sie brachte vier oder fünf Meter zwischen sich und ihren Verfolger, bevor dieser grunzend auf die Beine kam. An seinem röchelnden Atem, in den sich unsägliche Geräusche mischten, erkannte Saomai, dass er aufholte. Die Verzweiflung trieb ihr Tränen in die Augen. Schweiß rann ihr über das Gesicht. Saomai konnte kaum noch den Weg erkennen. Wo blieb denn diese elende Straße, fragte sie sich panisch.

      Wildes Hupen ließ sie wieder einen klaren Kopf bekommen. Vor ihr kam kreischend ein knallgelber Daihatsu zum Stehen. Saomai warf die Arme auf die Motorhaube, als wollte sie das Auto gefangen nehmen. Rettung, dachte sie erschöpft. Dann sah sie auf und erkannte hinter der Windschutzscheibe die schreckgeweiteten Augen von Tuk, der Krankenschwester aus dem Memorial Hospital. Außer ihrem Wagen konnte Saomai entlang der Straße niemanden erkennen. Das durfte nicht wahr sein! Was konnte die kleine Tuk schon ausrichten? Das herannahende Grunzen des Unholds holte Saomai aus der Schreckstarre. Er war nur noch wenige Meter entfernt und würde sie packen, wenn sie versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. Also sprang Saomai nach rechts und brachte das Auto zwischen sich und den Inder. Im selben Augenblick schrie sie Tuk an: „Rutsch rüber!“ und riss die Fahrertür des Daihatsu auf. Noch ehe Tuk reagieren konnte, warf sich Saomai über die kleine Thailänderin und hieb die Verriegelung der Beifahrerseite nach unten. Keine Sekunde zu früh, denn ihr Angreifer packte eben den Türgriff und zerrte daran. Seine unterlaufenen Augen starrten dümmlich durch die Seitenscheibe.

      „Rutsch!“, brüllte Saomai noch einmal aus Leibeskräften und schob sich gleichzeitig ins Wageninnere.

      Endlich kam Bewegung in die nicht mehr ganz junge Frau und sie schlupfte auf den Nebensitz. Die Beine zog sie ungelenk über den Schalthebel. Mit dem Kopf stieß sie gegen die Scheibe, an die von außen das sabbernde Gesicht des Inders drückte.

      Tuk schrie angewidert auf.

      „Fahr! Fahr!“, rief nun sie in ihrer Panik.

      „Ich kann nicht!“

      Panik hatte auch Saomai ergriffen. Sie hatte den Wagen zweimal abgewürgt. Als er schließlich ansprang, brachte ihr geschundener Fuß nicht die Kraft auf, das Gaspedal zu bedienen.

      „Mein Fuß“, stöhnte sie und schlug wütend auf das Lenkrad.

      Mit einem höhnischen Lachen begann ihr Peiniger, den kleinen Wagen durchzuschütteln. Auch das noch! Doch nun übernahm Tuk geistesgegenwärtig die Führung. Sie quetschte sich am Schaltknüppel vorbei und landete auf Saomais Schoß.

      „Füße weg!“, rief sie und legte den ersten Gang ein.

      Mit einem Sprung ruckelte der Wagen einen guten Meter vorwärts, blieb den Bruchteil einer Sekunde stehen und schoss plötzlich nach vorn. Tuk, die mit dem Bauch am Lenkrad klebte, war nicht in der Lage, es zu bedienen. Deshalb griff Saomai um sie herum.

      „Ich lenke, du gibst Gas“, sagte sie mit bebender Stimme und lenkte das Auto schlingernd in die Straße.

      Noch einmal zuckten beide zusammen, als eine Faust auf das Autodach krachte, dann brausten sie in Richtung der Geschäfte davon. In Richtung Zivilisation, wie es Saomai erschien.

      Als sie die erste Kreuzung passiert hatten, nahm Tuk den Fuß vom Gas und ließ den Wagen ausrollen.

      „Dr. Saomai“, fragte sie atemlos, „was ist mit Ihnen? Wer war der Mann?“

      Noch immer klemmte sie zwischen Saomai und dem Steuer, das Gesicht nur Zentimeter von der kleinen Windschutzscheibe entfernt. Leute blieben lachend vor dem Auto stehen und zeigten auf das ulkige Bild, das die beiden abgaben. Saomai fasste Tuk an der Hüfte und schob sich unter ihr hindurch auf den Beifahrersitz. Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und rieb sich mit beiden Händen über die Augen.

      Was ist mit Neill, fragte sie sich fieberhaft. Wohin hatten ihn die Angreifer getrieben? Und was mochten sie in diesem Moment mit ihm anstellen?

      Saomai kämpfte die Panik nieder, die in ihr aufstieg und versuchte, sich den Verlauf der Straßen in dieser Gegend aufzurufen.

      „Tuk, wohin führt die kleine Sandstraße, die unten am Fluß zwischen den Baracken verläuft?“

      Tuk sah sie fragend an.

      „Tuk, bitte“, flehte Saomai, packte die Schulter ihrer Kollegin und rüttelte daran. „Das ist wichtig!“

      „Zum alten Tempel“, kam die überraschend klare Antwort.

      Ja natürlich! Von dort war sie ja vorhin mit Neill in einer Parallelstraße gekommen. Kälte kroch in Saomai hoch, als ihr dämmerte, was vier muskelbepackte Raufbolde an diesem verlassenen Ort mit einem wehrlosen Mann anstellen würden.

      „Wir müssen dahin“, sagte sie tonlos.

      „Was?“

      „Jemand ist in großer Gefahr, Tuk. Fahr los!“

      Saomai kannte Tuk als hilfsbereite und gewissenhafte Krankenschwester, doch dass die kleine, rundliche Person nun ohne weiteres den Wagen startete und sich mit Vollgas in den Verkehr einfädelte, ließ ihr vor Verblüffung den Mund offen stehen. Und nicht nur das. Tuk war jetzt in ihrem Element.

      „Auf dem Rücksitz liegt meine Tasche, darin ist mein Handy. Geben Sie es mir!“

      Kaum hielt sie es in Händen, flogen ihre stummelkurzen Finger über die Tastatur, während sie den


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