SAOMAI. June A. Miller

SAOMAI - June A. Miller


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und von tiefen Verbeugungen begleitet, bahnten sie sich ihren Weg durch die Menge, bis diese schließlich zurück blieb.

      „Ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass die Leute dich verehren“, sagte er und blickte sich noch einmal um. Dabei fielen ihm fünf Männer auf, die sich rüde durch die kleine Anhäufung von Menschen drängelten.

      „Ach weißt du“, entgegnete Saomai, „ich habe eigentlich jedem hier schon mal geholfen. Rückenschmerzen gelindert, Medikamente besorgt und sowas. Die einfachen Leute denken dann gleich, man sei Arzt.“

      Sie zuckte die Achseln und hoffte, dass das Thema für Neill damit erklärt sei.

      Neill blickte noch einmal zurück. Die Männer waren verschwunden.

      „Hmm“, murmelte er in Gedanken.

      „Wußtest du, dass es in dieser Gegend noch richtigen Dschungel gibt?

      „Wirklich?“ Neills Aufmerksamkeit galt nun wieder Saomai. „Mitten in Bangkok?“

      „Ja wirklich. Noch bis vor etwa zehn, fünfzehn Jahren war die ganze Stadt davon durchzogen. Wurde ein Grundstück nicht mehr bewirtschaftet, weil die Leute alt waren oder es keine Erben gab, holte es sich der Dschungel zurück. So wie bei der Tempelanlage. Das ist wichtig für die wildlebenden Tiere.“

      „Was denn für wildlebende Tiere?“, fragte Neill irritiert.

      „Na, Warane, Schlangen, Affen…“

      „Warane?“

      „Ja. Hast du noch nie einen gesehen?“

      Saomai konnte kaum glauben, dass Neill den Kopf schüttelte.

      Dann lass uns zum Fluss runtergehen!“, schlug sie vor, „Da kann ich dir bestimmt welche zeigen!“

      Sie übernahm die Führung und lotste Neill zielstrebig zwischen kleinen, auf Holzpfählen thronenden Häusern und Baracken entlang. Nach dreihundert Metern bog sie auf einen Plattenweg ab, der so von Dickicht überwuchert war, dass er Neill gar nicht aufgefallen wäre. Leichtfüßig sprang sie über Baumwurzeln, die die alte Pflasterung hier und da aufwarfen.

      „Achtung, tritt nicht auf die Natter“, sagte sie und machte einen Ausfallschritt nach rechts.

      „Eine Natter?“, rief Neill ungläubig und erstarrte, als er zwei Fußbreit vor sich ein leises Zischen vernahm. Der platte Kopf einer Schwarzschwanznatter reckte sich in die Höhe und erst jetzt sah er den zusammengerollten Schlangenkörper, der sich farblich kaum vom dunklen Untergrund abhob.

      „Die tut nichts“, beruhigte ihn Saomai und ergriff seine Hand, um ihn um das Reptil herumzuführen.

      Der Weg wurde nun abschüssig, die moosigen Steinplatten zu unebenen Treppenstufen. Neill achtete sorgsam auf jeden Schritt, den er tat. Noch eine Schlange wollte er nicht übersehen. Als Saomai unverhofft stehenblieb, lief er fast in sie hinein und gab einen überraschten Laut von sich.

      „Pssst“, machte sie und legte den Zeigefinger an die Lippen. „Da ist einer, siehst du?“

      „Was ist da?“, flüsterte Neill zurück.

      „Na, ein Waran.“

      „Nein, ich seh‘ keinen. Wo denn?“

      Neill schmiegte die Wange an Saomais Haar. Sein Blick folgte der Hand, mit der sie ihm die Richtung wies. Sie duftete nach Lavendel.

      „Da auf der untersten Steinplatte. Jetzt hebt er gerade den Kopf.“

      Nun hatte auch Neill die Echse entdeckt.

      „Die ist ja riesig“, rief er. „Bestimmt zwei Meter!“

      „Naja, höchstens eineinhalb Meter“, lachte Saomai und wandte sich zu ihm um.

      Seine unverhoffte körperliche Nähe ließ sie erschauern und den nächsten Satz nur stockend zu Ende bringen: „Kein Grund… zur Sorge. Warane sind scheu und… gleiten sofort ins Wasser, wenn man ihnen zu nah kommt.“

      „Und was passiert, wenn man dir zu nahe komme?“, fragte Neill und hob Saomais Kinn, so dass sie ihn ansehen musste.

      Saomai hielt seinem Blick nicht stand. Sie entzog ihm ihr Kinn und trat einen Schritt zurück. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. War Neill gerade dabei, ihr seine Gefühle zu offenbaren? Das konnte nicht sein! Und wenn doch, durfte sie das zulassen, wenn doch alles, was sie tat, pure Berechnung war? Nein, das wäre nicht richtig!

      „Was ist mit dir?“, fragte Neill sanft.

      Sie musste eine Entscheidung fällen! Ja, genau. Sie würde Neill sagen, warum sie ihn hierher gebracht hatte. Würde ihm sagen, dass sie über die Bebauungspläne Bescheid wusste und ihn umstimmen wollte. Sollte er entscheiden, wie es dann mit ihnen weiterging!

      „Neill, ich muss dir etwas gestehen“, begann sie zaghaft. „Ich habe dich nicht einfach nur so hierher geführt. In dieses Viertel.“

      Sie stockte und Neill nickte ihr aufmunternd zu, damit sie fortfuhr.

      „Ich hatte gehofft, wenn du es kennenlernst, wenn du es mit meinen Augen sehen könntest, würdest du dich vielleicht darin verlieben.“

      Unsicher sah Saomai zu ihm auf. Ein Tränenschleier nahm ihr die Sicht. Gleich würde ihr Traum zerplatzen. Doch statt sich gekränkt zurückzuziehen, trat Neill auf sie zu, legte zärtlich die Arme um ihre Schultern und lehnte seine Stirn gegen ihre.

      „Das habe ich doch längst“, sagte er leise.

      „Was denn?“, fragte Saomai verwirrt.

      „Mich verliebt.“

      Sie glaubte, sich verhört zu haben. Hatte Neill das wirklich gesagt? In ihrem Inneren jubilierte etwas und zugleich forderte ihr Gewissen die vollständige Aufklärung. Doch was konnte sie schon ausrichten gegen diese sinnlichen Lippen, die sich jetzt auf ihre legten. Gegen seine weiche Zunge, die die ihre suchte. Gegen ihr schwaches Fleisch, das nur allzu bereit war, sich diesem Mann hinzugeben?

      Nichts, dachte sie und schloss die Augen.

      Im nächsten Augenblick riss sie sie wieder auf. Im Niedersenken der Lider hatte sie gesehen, dass der Waran die Flucht ergriff. Instinktiv wandte sie den Kopf in die Richtung, aus der er eine Bedrohung gewittert haben musste. Keine zwei Meter von ihnen entfernt stand ein gedrungener Mann oberhalb der Böschung und grinste durch eine lückenhafte Zahnreihe auf sie herunter. In seiner rechten Hand blitzte ein Messer. Neill, dessen Lippen gerade Saomais Hals hinunter glitten, spürte, wie sie sich versteifte. Er hob den Kopf und folgte ihrem Blick. Im nächsten Augenblick spannte sich jeder Muskel seines Körpers. Beschützend schob er sich zwischen Saomai und den Fremden. Plötzlich schrie sie hinter ihm auf. Jemand hatte sie an den Haaren herumgerissen, ihre Tasche ergriffen und sie im Davonlaufen einige Schritte mit sich geschleift. Saomai strauchelte und landete unsanft im Dreck, während der Dieb durch das Dickicht die Böschung hinauf hechtete, und sich zu seinem Kumpan gesellte. Die beiden lachten in ihre Richtung und grinsten Neill herausfordernd an, bevor sie den schmalen Weg hinaufstürmten und zwischen den Hütten einer ungeteerten Stichstraße verschwanden. Neill blickte ihnen eine Sekunde lang nach. Dann war er bei Saomai und half ihr auf.

      „Bist du in Ordnung?“, fragte er besorgt.

      Er strich ihr über die Haare, die Arme, den Rücken, als müsste er sich überzeugen, dass sie nicht zerbrochen war.

      „Ja, alles ok. Ist nur der Schreck“, sagte sie. Dann kam der Zorn. „Die Mistkerle haben meine Tasche geklaut!“

      „Die hole ich mir“, schnaufte Neill. „Kann ich dich hier allein lassen?“

      „Ja, nein“, antwortete Saomai perplex.

      Bis sie begriff, was Neill vorhatte, setzte er bereits den Männern nach.

      „Warte!“, rief Saomai und folgte ihm so schnell ihr rechter Fuß es zuließ.

      Dann fiel ihr ein, dass sie Neill unbedingt warnen musste.

      „Der


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