SAOMAI. June A. Miller

SAOMAI - June A. Miller


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      „Nein.“

      Neills zweifelnder Blick ließ ihr keine andere Wahl, als ihm widerwillig eine Erklärung zu liefern.

      „Früher wurden hier die Toten angeliefert und aufbewahrt. Dann wurde der neue Trakt gebaut und dieser hier sich selbst überlassen. Die Einfahrt ist dann irgendwann mal eingestürtzt. Aber jetzt lass uns von etwas anderem reden!“

      Als sich kurz darauf ein Boulevard vor ihnen auftat, den zu beiden Seiten Villen im Kolonialstil säumten, blieb Neill überrascht stehen. Das Zwitschern exotischer Vögel erfüllte die Luft. Nur vereinzelt passierten Autos und Motorräder.

      „Na, das ist doch deutlich schöner!“ Er lachte. „Nein, im Ernst, Saomai, ich hatte keine Ahnung, dass es mitten in der Stadt so idyllisch sein kann!“

      Saomai stimmte ihm zu und begann zu erzählen.

      „Früher war die Gegend hier am Fluss sehr wohlhabend. Wegen der Nähe zum Königspalast zogen Konsule, Politiker und Diplomaten aus aller Welt hierher. Die wiederum zogen thailändische Kaufleute, Rechtsanwälte, Steuerberater und Ärzte an. Soviel ich weiß, muss das mal eine sehr noble Gesellschaft gewesen sein. Diese Häuser“, sie wies auf die Villen, „haben Feste gesehen, die heute vermutlich Skandale auslösen würden.“

      Neill lachte.

      „Hey, du bist ja eine richtige Stadtführerin! Woher weißt du das?“

      Saomai zuckte die Schultern. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt. ‚Goldene Zeiten‘ hatte er sie immer genannt und sich gegrämt, weil die Gegend in den letzten Jahren mehr und mehr verkam.

      Neill und Saomai wichen einem alten Mann aus, der mit seinem wackligen Korbstuhl den schmalen Bürgersteig vereinnahmte. Seine Augen leuchteten auf, als er Saomai erkannte. Er verneigte sich ehrfürchtig, murmelte ein paar Worte, die in Neills Ohren wie ein Segensspruch klangen, und lächelte sie voller Herzenswärme an.

      Saomai antwortete ebenfalls auf Thailändisch und neigte leicht den Kopf.

      „Was hat der Mann gesagt?“, fragte Neill neugierig.

      „Er hat uns einen schönen Tag gewünscht.“

      „Und dabei verbeugt er sich so tief vor dir?“

      „Er ist eben besonders freundlich.“

      Sie steuerten auf eine Tempelanlage zu, die halb zerfallen vor ihnen auftauchte. Trotz der eingestürzten und von Schlingpflanzen überwucherten Fassade, zerbrochener Statuen und über das ganze Gelände verstreuter Ruinen war erkennbar, dass dies einmal eine prachtvolle Heiligenstätte gewesen sein musste. Saomai blieb am steinernen Geländer stehen, das die Anlage zur Straße hin abgrenzte.

      „Hier wollte ich starten“, sagte sie aufgeregt, „und dir erzählen, wie diese Gegend einmal ausgehen hat. Es wirkt etwas heruntergekommen, aber hier liegt soviel verborgene Schönheit, findest du nicht?“

      Neill sah sich um.

      „Ja, aus der Gegend könnte man was machen.“

      Hoffnung keimte in Saomai auf. War sie etwa schon auf dem richtigen Weg?

      „Was würde dem großen Architekten Neill Ferguson denn dazu einfallen?“, fragte sie keck.

      Er überlegte kurz.

      „Naja, ich würde vieles von dem bewahren, was vorhanden ist, was hierher gehört.“

      Neill deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

      „Die Kolonialvillen zum Beispiel würde ich im Originalzustand belassen und restaurieren. Und auch die vielen kleinen Holzhäuser erhalten, die verstreut dazwischen liegen. Der Kontrast hat einen unglaublichen Charme.“

      Saomai nickte eifrig.

      „Dieser Tempel sollte wieder ein Tempel sein!“, sann Neill weiter. „Wenn ich mir vorstelle, was das mit dem ganzen Viertel macht! Mit der Seele der Menschen, die hier leben. Die ganze Nachbarschaft liegt vermutlich nur danieder, weil ihr religiöses Zentrum vermodert. Wenn man den Tempel zu neuem Leben erweckt, wird er auf das Viertel abstrahlen. Er würde die Menschen zusammenbringen, das kulturelle Leben befeuern. So ist es doch mit euren Gotteshäusern, oder nicht?“

      „Ja, so ist das mit unseren Gotteshäusern“, wiederholte Saomai nachdenklich.

      Wieso war ihr nur nie aufgefallen, dass die ganze Gegend daran krankte, dass der Tempel zusammengefallen war? Eine Häusersprengung in unmittelbarer Nähe hatte vor Jahren den Boden abgesenkt und das Gebäude einstürzen lassen. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, war das der Anfang vom Niedergang gewesen. Ohne Tempel fehlte den Menschen offensichtlich eine Stätte der Begegnung. Vom Segen der Götter ganz zu Schweigen.

      Saomai ließ den Blick über die vom Dschungel verschlungene Ruine schweifen und Bilder vergangener Tage wurden in ihr wach.

      „Als Kind habe ich hier oft gespielt“, erklärte sie Neill. „Es gab nichts Aufregenderes, als auf dem bronzenen Buddha herumzuturnen, der unter einer geschwungenen Pagode da hinten im Garten thronte.“

      Ihre Hand deutete in die Ferne, wo ein zerfallener Pavillon stummer Zeuge ihrer Erzählung war.

      „Meine Mutter hatte es zwar verboten, doch immer wenn ich glaubte, allein zu sein, kletterte ich an ihm hoch. Wie ein Äffchen“, sie lachte. „Das waren immerhin gute zweieinhalb Meter! Ich stellte mich in seine Armbeuge, schlang die Arme um seinen Hals und brachte mein Gesicht ganz nah an seins. Ich glaube, dass Buddha nichts Schlimmes daran fand. Er sah mich dann aus halb geschlossenen Lidern an und lächelte, während ich ihm plappernd berichtete, was so los war.“

      „Erzähl weiter“, bat Neill, als Saomai innehielt.

      „Einmal hat meine Mutter mich erwischt“ erinnerte sie sich. „Vor Schreck bin ich abgerutscht und hielt mich an den überlangen Ohrläppchen Buddhas fest. Das hat ganz schön Ärger gegeben!“

      Sie schmunzelte bei der Erinnerung an die kleine Episode mit ihrer geliebten Mum.

      „Lebt deine Familie noch hier?“, fragte Neill in ihre Gedanken hinein.

      Mit einem Kopfschütteln wischte Saomai die Bilder beiseite.

      „Nein“, sagte sie, bemüht die Trauer abzuwehren, die Neills harmlose Frage in ihr weckte. „Meine Eltern sind beide tot.“

      Er streichelte ihren Arm. „Das tut mir leid.“

      Sie sah ihn an.

      „Ist schon gut.“

      Ist es nicht, dachte Neill, und bekam erstmals eine Ahnung, woher die Traurigkeit in Saomais Augen rührte. Doch offensichtlich wollte sie nicht mit ihm darüber sprechen.

      „Wenn du von dieser Tempelanlage erzählst, kann ich mir wirklich vorstellen, wie es hier gewesen sein muss“, sagte er daher. „Und wie es wäre, wenn man das wieder aufbaute.“

      „Ja, das ist mein großer Traum“, entgegnete Saomai mit einem tiefen Seufzer.

      Sie fragte sich, ob Neill bewusst war, dass sie sich auf Bauland befanden, das er und Lamom bereits gekauft hatten. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, ihn weitere Ideen entwickeln zu lassen. Er legte ein überraschend feines Gespür für die Bewohner an den Tag.

      Sie setzten ihren Weg fort und bogen nach wenigen Hundert Metern in eine belebtere Straße ein.

      Fast ein Jahr lang hatte Saomai diese Ecke gemieden. Doch mit Neill ins Gespräch vertieft, hatten sie ihre Füße von ganz allein in die Nähe ihres Elternhauses geführt. Von allen Seiten wurden sie begrüßt, bis eine Traube von Menschen sie umringte. Alle plauderten fröhlich durcheinander. Neill verstand mit seinem wenigen Thailändisch doch immer wieder das eine Wort.

      „Warum nennen sie dich Doktor?“, fragte er Saomai über die Köpfe der kleinen Thais hinweg.

      „Das hat nichts zu bedeuten“, antwortete sie und war froh, dass jemand an ihrem Ärmel zupfte und auf die eiternde Wunde


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