White Moon. Leni Anderson

White Moon - Leni Anderson


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genau das zu tun, so sehr sollte, nein, so sehr muss ich mir genau in diesem Moment eingestehen, dass ich nach Hause gehöre. Jetzt. Allein.

      Er scheint meine Zweifel zu spüren und streicht mir vorsichtig über die Wange.

      „Chris“, setze ich an und schmiege dabei mein Gesicht in seine Hand. „Das geht mir alles zu schnell. Der Abend gestern. Das Gespräch in der Küche. Fuck, das eben ...“

      „Schon okay“, erwidert er sacht und streicht mir mit dem Daumen über die Lippe, „ich bin gut im Warten.“

      Ich löse mein Gesicht aus seiner Hand, was mir alles andere als leicht fällt, und verliere mich kurz in seinen Augen. „Du bist mir wirklich nicht böse, wenn ich jetzt gehe?“

      „Nein. Du brauchst sicher Zeit zum Nachdenken, eine Flasche Chardonnay und deine Lieblingsserie auf DVD. Oder streamst du jetzt endlich?“

      Fassungslos starre ich ihn an. Er lacht laut auf und wirft dabei seinen Kopf in den Nacken.

      „Hey“, beruhigt er sich schließlich, „ich hatte zehn Wochen Zeit dich kennen zu lernen. Da erfährt man schon einiges.“ Er haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Bin gleich wieder da.“ Er stellt die Champagnerflasche ab und geht strammen Schrittes zum Tresen des Cafés.

      Ein schlechtes Gewissen macht sich in mir breit. Sollte ich jetzt wirklich gehen? Sollte ich nicht vielleicht doch mit zu ihm? Nein, das wäre zu früh. Ich kenne ihn doch kaum. Und doch ...

      „Komm, ich fahr dich nach Hause.“

      Ich schnappe mir meine Jacke und wir verlassen das Café. Auf dem Weg zum Auto schweigen wir. Mein Gedankenkarussel rast. Wann werde ich ihn wiedersehen? Will ich ihn überhaupt wiedersehen? Oder sollte ich es besser lassen? Immerhin ist er ein Vampir. Fuck, er ist es definitiv. Und er hatte von mir getrunken. Mehr noch, ich hatte mich ihm hingegeben. Und unser kleines Making Out auf der Treppe war so ziemlich das Heißeste, was mir in letzter Zeit widerfahren war.

      Ja, ich will ihn wiedersehen. Aber zuerst muss ich mich sortieren. Meine Gedanken in den Griff bekommen.

      „Vielleicht nehme ich doch lieber ein Taxi.“

      Chris bleibt überrascht stehen. Er zieht die Augenbrauen hoch.

      „Es ist nur ...“

      „Ich verstehe schon.“ Chris winkt einem vorbeifahrenden Wagen.

      Ist dort ein Hauch von Enttäuschung in seinem Tonfall zu hören?

      Der Wagen hält neben uns am Bordsteinrand. Bevor ich einsteige, zieht Chris mich in seine Arme. Mit einem tiefen Seufzer drückt er mich an sich. Als er seine Umarmung löst und sein Blick dem Meinen begegnet, findet er beruhigende Worte: „Ich weiß, dass die letzten zwölf Stunden alles andere als normal verlaufen sind. Und dass dir das eine Scheißangst eingejagt haben muss. Ruh' dich aus, Babe. Denk über alles nach und hör auf das Summen in dir. Es wird dir helfen, das alles zu verstehen. Meine Nummer ist in deinem Handy.“ Er haucht mir einen Kuss auf den Haaransatz.

      „Ich ruf dich an“, verspreche ich ihm. Dann steige ich ins Taxi und fahre nach Hause.

      6 Kapitel

      Als ich endlich zu Hause ankomme, schmeiße ich meine Pumps gezielt in die Ecke. Himmel, die taugen wirklich nur zum Ausgehen was. Wie halten die ganzen Tussis das nur den ganzen Tag aus?

      Erleichterung durchströmt mich, als ich mich auf mein Sofa plumpsen lasse. Ich atme tief durch und genieße den vertrauten Geruch meiner Wohnung, meiner Ruhezone, wo alles so läuft, wie ich es will, wo sich keiner einmischt, wo ich so sein kann, wie ich bin und wie ich will.

      Erst jetzt bemerke ich, dass mir irgendwie alles weh tut. Mein Rücken ist total verspannt und meine Füße unfassbar geschwollen. War das eine Blase am kleinen Zeh?

      Verdammt.

      Die Bisswunde an meinem Hals, die sich unter meinen Fingern noch leicht erhaben anfühlt, pocht in süßer Erinnerung vor sich hin.

      Hmm ...

      Ich grinse lüstern in mich hinein. Der Rest meines Körpers sehnt sich einfach nur noch nach Jogginghose und Schlabberpullover. Den Wunsch erfülle ich mir gerne.

      Ich raffe mich also vom Sofa auf und tappe in mein Schlafzimmer. Nachdem ich mir bequeme Sachen angezogen habe, Spitzenhöschen und BH gegen Shorty und gar nichts eingetauscht habe, finde ich auf meinem Nachttisch endlich mein Handy wieder. In wilden Farben blinkend kann es meine Ankunft wohl kaum erwarten.

      Fuck.

      Das Display verkündet mir stolz, dass ich seit gestern Abend fünf Anrufe in Abwesenheit und satte elf neue Nachrichten erhalten habe. Alle von Hailey. Wem sonst.

       Hey Babe, mir geht’s irgendwie gar nicht gut. Rufst du mal durch?

       (21:02 Uhr)

       HUHU! Lies mal meine Nachricht!

       (21:05 Uhr)

       Okay, vielleicht bist du ja noch unter der Dusche. Macht nichts. Ruf durch, sobald du fertig bist. Knutsch, H.

       (21:07 Uhr)

       HANNAH?

       (21:10 Uhr)

       ALLES OK?

       (21:11 Uhr)

       Ok, Babe, du hast es nicht anders gewollt: Ich komme nicht vom Klo runter. Keine Ahnung, warum. Es kommt oben wie unten raus. Steven hat sogar seinen Flug gecancelt. Sorry ... Ich wollte so gerne mit dir abf

       (21:15 Uhr)

       Sorry, musste kurz wohin. Jedenfalls bin ich heute nicht mit dabei. Gehst du trotzdem?

       (21:22 Uhr)

      

       SACH MA, IGNORIERST DU MICH ETWA?

       (21:27 Uhr)

       Sorry, wollte dich nicht anschreien. Mir geht’s nur echt mies ...

       (21:31 Uhr)

       Fuck. Du meldest dich echt gar nicht ... Bist du schon unterwegs?

       (21:40 Uhr)

       Okay. Sieht so aus, als hättest du dein Handy zu Hause vergessen. LOL. Na, das wirst du noch bereuen ... ;) Wir hören uns morgen früh, oder so. Hab viel Spaß!

       (21:52 Uhr)

      Die Anrufe kamen jeweils zwischen den Nachrichten.

      Mist.

      Es scheint sie echt erwischt zu haben. Hailey lässt sich normalerweise nicht so schnell umhauen. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als sie allen Ernstes mit Fieber im All in abgegangen ist wie ein Zäpfchen. Der letzte Cubra Libre hatte sie dann allerdings so umgehauen, dass ich fast einen Krankenwagen rufen musste. Zum Glück war ihr Freund Steven in der Stadt. Er brachte sie, nachdem ich ihn angerufen und meine ernsthafte Besorgnis zum Ausdruck gebracht hatte, nach Hause.

      Ich setze mich aufs Bett und wähle Haileys Nummer.

      „Na, du kleine Partylöwin? Endlich wieder zu Hause?“, meldet sie sich nach nur einem Klingeln zu Wort.

      „Jipp, bin wieder da. Sorry, ich hatte echt mein Handy vergessen.“

      „Hab ich gemerkt, Babe. Wie war dein Abend?“

      „Hmm, eigentlich ganz passabel.“ Innerlich macht sich ein hysterischer Lachanfall breit und


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