Die Toten von Stade. Irene Dorfner

Die Toten von Stade - Irene Dorfner


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Stade zu verbringen, was wieder eine ihrer Schnapsideen gewesen war. Er nahm sich vor, während der ganzen Zeit zu schmollen – aber dann hatte er von dieser Festung gelesen, die ihn brennend interessierte.

      Oben angekommen, sog er die frische Luft ein, von der er sicher war, dass sie hier viel besser war als eine Etage tiefer. Interessiert sah er sich um. Dass hier offenbar Bauarbeiten stattfanden und man nicht umsonst die Sperrbänder angebracht hatte, war ihm egal. Es schien, als wären die nicht für ihn gedacht. Bedächtig ging er die Stellen ab, wo die Kanonen gestanden haben, die riesig gewesen sein mussten. Welchen Lärm sie verursachten, konnte er sich nur schwer vorstellen. Soldaten mussten hier Wochen und Monate mit schwerer Arbeit, Kanonendonner, ohne jeglichen Komfort und unter ständiger Angst ausharren. Gänsehaut machte sich breit, die ihn nur noch mutiger werden ließ. Dort hinten musste die Elbe sein. Die Bäume gab es damals noch nicht. Nur eine kurze Strecke trennte ihn vom Ufer der Elbe, die er seit ihrem Aufenthalt in Norddeutschland noch nicht gesehen hatte. Er konnte nicht anders, er musste seine Hände ins Wasser tauchen oder zumindest einen Stock hineinhalten, also kletterte er rüber. Das Verbotene trieb ihn vorwärts. Wenn ihn jetzt jemand entdecken würde, gab das sicher mächtigen Ärger, aber hier war weit und breit niemand zu sehen – Corona sei Dank! Er lächelte, denn diese Pandemie hatte ihn noch nie interessiert, er hielt sie und die Begleiterscheinungen für völlig überzogen. Ob ihn seine Frau an die Betreiber dieser Anlage verraten würde? So hinterhältig war sie dann doch nicht.

      Der Blick auf die Elbe bei diesem herrlichen Wetter war phantastisch, vor allem für einen Mann, der nur selten aus dem Schwarzwald herauskam. Ein Containerschiff näherte sich. So ein riesiges Schiff hatte er noch nie gesehen! Dann stand er vor dem Wasser der Elbe, das heute ruhig ans Ufer schwappte. Noch bevor er sich bücken konnte, sah er links von sich etwas in der Sonne glitzern, das hier nicht hergehörte. Ein Klumpen hing an einem Ast, der vermutlich bei einem Sturm abgebrochen war. Der Rest wogte im Wasser leicht hin und her. Neugierig ging er darauf zu. Was war das? Es schien wie ein zusammengerollter Teppich auszusehen. Aber was hatte der hier zu suchen?

      Als er näher kam, blickte er in die Augen einer übel zugerichteten Leiche, die in einen Draht eingewickelt war. Noch bevor er Hilfe holen konnte, musste er sich übergeben.

      Kriminalhauptkommissar Bernd Strömer stand mit dem Kollegen Kurt von Hassel nur eine halbe Stunde später am Ufer der Elbe. Die beiden betrachteten die Leiche der jungen Frau, deren Anblick auch für die Kommissare, die schon so viel gesehen hatten, nicht leicht zu ertragen war. Ob sie einmal hübsch gewesen war? Und wenn, dann war davon nichts mehr zu sehen.

      „Wie lange liegt sie schon im Wasser?“, wandte sich Strömer an den Kollegen, dessen Namen er vergessen hatte. Namen waren nicht sein Ding, das wussten alle.

      „Schwer zu sagen. Ich schätze einige Wochen, vielleicht auch länger. Du musst die Obduktion abwarten.“

      „Die Frage, ob wir es hier mit einem Mord oder einem Unfall zu tun haben, erübrigt sich“, sagte Strömer.

      „Sie war in diesem Sechseckdraht eingewickelt. Den nimmt man gerne für Hasen- oder Hühnerausläufe.“

      „Und ich dachte, ich hätte schon alles gesehen“, murmelte von Hassel, der mit dem Würgereiz kämpfte, sich vor den Kollegen aber keine Blöße geben wollte.

      „Der Täter wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte früher schon einmal damit zu tun, aber das ist viele Jahre her. Da wurde eine Leiche in einen ähnlichen Draht gewickelt. Damit will man erreichen, dass Fische an das Fleisch können, die Leiche aber nicht mehr an die Oberfläche kommt. Wenn ein gewisser Prozentsatz des Fleisches weg ist, sinkt der Rest zu Boden. Eigentlich sehr clever. Ich meine sogar, dass das Militär früher so gearbeitet hat. Sehr interessant.“

      „Clever und interessant? Was ist denn mit dir los? Das ist doch pervers! Außerdem könnte man das auch ohne diesen Draht erreichen. Fische kommen dann sogar besser dran.“

      „Das sehe ich anders. Die Leiche an sich wird komprimiert, der Draht hält alles zusammen. Das lockt Fische geradezu an.“

      „Papiere oder irgendetwas, mit dem wir die Frau identifizieren können?“

      „Nein, wir haben nichts gefunden.“

      „Mist! Wer hat sie gefunden?“

      „Ein Besucher der Festung. Er stieg über die Absperrung der momentanen Baustelle und lief über den Wall bis zur Elbe. Dabei hat er sie entdeckt.“

      „Touristen! Die müssen überall ihre Nase reinstecken.“

      „Sei fair, Bernd. Wenn er sie nicht gefunden hätte, hätte sie vermutlich noch viele Wochen unentdeckt hier gelegen. Während der Wintermonate ist hier nicht viel los, Corona und die Beschränkungen kommen noch dazu.“ Kurt von Hassel kannte die Festung Grauerort von einigen Veranstaltungen, die aber fast alle im Frühjahr und Sommer stattfanden, einige wenige im Herbst. Das war noch vor Corona gewesen. Sehnsüchtig dachte er an die Zeit zurück – ob es jemals wieder so werden würde? Die Lockerungen griffen nur langsam. Und wenn, dann in Bereichen, die ihn kaum betrafen. Geschafft war es erst, wenn man sich wieder ohne Maske frei bewegen konnte. Ob das überhaupt jemals wieder möglich war?

      Die Befragung des Touristen gab nicht viel her. Er hatte sich bereits von mehreren Seiten diverse Standpauken anhören müssen, weshalb er sich echt schlecht fühlte. Auch seine Frau, die mit ihm im Café der Festung saß, hatte sich mit Beschimpfungen nicht zurückgehalten. Ja, er war verbotenerweise über die Absperrbänder geklettert, das hätte er nicht tun sollen, das war ihm jetzt klar. Den Anblick der Leiche würde er nie wieder vergessen, das war seine gerechte Strafe und damit musste er jetzt leben. Die dunklen, leeren Augen der schwarzhaarigen Frau bohrten sich in sein Gedächtnis. Zitternd saß er auf seinem Stuhl. Alle hackten auf ihm herum. Nur die Frau des Vorsitzenden und gute Seele des Vereins Festung Grauerort, Hannelore Schneidereit, hatte Mitleid mit ihm. Sie war die Einzige, die ihm einen Tee brachte und ihn anlächelte, an ihrem freundlichen Gesicht hielt er sich fest.

      Als zwei Männer auf ihn zukamen, wusste er sofort, dass das Polizisten waren. Die Ausweise, die ihm gezeigt wurden, ignorierte er. Gefasst wartete er auf einen weiteren Anschiss, der aber überraschenderweise ausblieb – sehr zum Leidwesen seiner Frau. Die Polizisten befragten ihn zu der Leiche und zu seinem eigenen Verhalten, als er sie fand.

      „Ich schwöre, dass ich nichts angefasst habe. Ich musste mich übergeben, das tut mir sehr leid.“

      „Das haben wir gesehen“, murmelte Strömer. „Wie weit waren sie von der Leiche entfernt? Direkt an ihr dran?“

      „Ja. Ich wollte helfen, aber da war nichts mehr zu machen, das habe ich gleich gesehen. Da war kein Leben mehr, die Frau war tot!“

      „Als ob du wüsstest, wie eine Leiche aussieht!“, mischte sich seine Frau ein.

      „Haben Sie irgend etwas angefasst?“, fuhr Strömer fort, ohne auf die schrille Stimme der Frau zu achten.

      „Ich habe nichts angefasst, ich schwöre! Ich hätte die Frau nicht anfassen können, das hätte ich nicht geschafft. Ich wollte helfen, aber da war nichts mehr zu machen“, wiederholte er.

      „Beruhigen Sie sich, Sie haben alles richtig gemacht. Kommen Sie heute bitte zur Zeugenaussage aufs Revier. Passt sechzehn Uhr?“

      Der Mann nickte nur und konzentrierte sich wieder auf Frau Schneidereit, die nicht aufhörte, ihn anzulächeln, was ihm sehr, sehr guttat. Seine eigene Gattin ignorierte er, was die zur Weißglut brachte. Die Vorwürfe wurden heftiger und derber, aber das ging die Polizei nichts an, deshalb mischten sie sich nicht ein.

      Kurt von Hassel wandte sich dem Vorsitzenden des Vereins Festung Grauerort Peter Schneidereit zu, der nicht fassen konnte, dass der Ort, um den sich alle mit großer Mühe und riesigem Engagement kümmerten, mit einer Leiche in Verbindung stand.

      „Sie waren in den letzten Monaten nicht an der Elbe?“

      „Nein, dort bin ich sehr selten. Auch die anderen Mitglieder der Stiftung, die sich um den Erhalt der Festung kümmern, sind nicht oft dort. Warum auch? Wir kümmern uns um die Anlage und die Veranstaltungen,


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