Die Toten von Stade. Irene Dorfner

Die Toten von Stade - Irene Dorfner


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er, dass der Polizist Erkundigungen über den Postboten Siegfried Schindler einzog und dann auch noch seine Telefonnummer notierte. Leo rief Siggi umgehend an. Auch dem Gespräch zwischen den beiden konnte Jäger nur mit offenem Mund verfolgen. Alles ging sehr schnell.

      „Würden Sie mir zeigen, wo die Frau wohnt?“, wandte sich Leo dem alten Mann zu, nachdem er aufgelegt hatte.

      „Selbstverständlich, aber ich verstehe nicht, was das bringen soll. Der Siggi kann Ihnen auch nicht mehr sagen als ich. Und die Frau wird nicht mit Ihnen sprechen, sie spricht mit niemandem.“

      „Haben Sie einen Wagen oder brauchen wir ein Taxi?“

      „Wir können zu Fuß gehen, das Altländer Viertel ist in zwanzig Minuten zu erreichen.“

      „Das dauert zu lange.“ Leo stand auf und ging zu Christine. „Gibst du mir die Nummer von unserem Chauffeur?“

      „Welchem Chauffeur?“

      „Von dem Typen, der uns vom Flughafen nach Stade gefahren hat.“

      „Von Herrn Reidenbach?“

      Leo nickte. Ungeduldig wartete er, bis Christine die Telefonnummer in ihrer riesigen Handtasche hervorgekramt hatte. Leo lächelte ihr zu und ging zurück zum Tisch, an dem Benno Jäger wartete.

      Leo wählte und sprach jetzt mit Reidenbach, der zum Glück verfügbar war.

      „Ich bin im Altstadtcafé.“

      „Dann weiß ich Bescheid. Ich warte am Fischmarkt auf Sie.“

      Leo wiederholte den Treffpunkt und sah Jäger dabei an, der sofort nickte.

      „Können wir los?“, fragte Leo und sah den alten Herrn dabei an, der völlig überfordert schien.

      „Was haben Sie vor? Wie wollen Sie vorgehen? Was sagen Sie zu Frau Leipert?“

      „Lassen Sie das mal meine Sorge sein.“ Leo legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch. „Können wir?“

      Christine beobachtete, dass Leo aufstand, und ging zu ihm.

      „Machen wir einen kleinen Spaziergang durch die Innenstadt? Die nette Dame meinte, wir könnten…“

      „Du musst leider allein gehen, Christine. Ich habe meinem neuen Freund hier versprochen, ihm einen kleinen Gefallen zu tun. Wir sehen uns später im Hotel. Wo übernachten wir?“

      Christine nannte ihm das Stadthotel im Zentrum von Stade. Leos Freundin konnte kaum glauben, was hier gerade geschah. Ließ er sie tatsächlich in dieser Stadt im Stich? Und wer war eigentlich der Mann an seiner Seite?

      Leo sah Jäger an, somit konnte er Christines Enttäuschung nicht sehen. Um sie machte er sich keine Sorgen, sie kam einige Stunden auch sehr gut allein zurecht. Mit einem gemurmelten Gruß gingen die Männer davon.

      Christine war nicht nur enttäuscht, sondern auch beleidigt. Entschlossen band sie sich ihren Schal um und stampfte los. Wenn Leo sie im Stich ließ, musste sie eben allein gehen.

      Nach wenigen Schritten waren Leo und Benno Jäger am Fischmarkt, dort wartete bereits das Caddy Mobil von Marko Reidenbach.

      „Zuerst zum Altländer Viertel.“

      Während Benno Jäger versuchte, Leo von seinem Vorhaben abzubringen, interessierte sich der nur für die beiden Sätze. Was bedeuteten sie? Was sollte das?

      Vor dem Mehrfamilienhaus mit der Nummer 12 angekommen stiegen die Männer aus.

      Dort wartete bereits der Postbote Siegfried Schindler, der für das Treffen seine Tour unterbrochen hatte.

      „Sie warten bitte, ich brauche Sie noch“, sagte Leo zu dem Chauffeur, der daraufhin nur nickte. Reidenbach sah dem riesigen Schwaben hinterher. Was war hier los? Was hatte der Polizist vor? Bei der Fahrt vom Flughafen nach Stade war er sehr wortkarg gewesen, jetzt verhielt sich der Mann ganz anders. Da heute keine weiteren Aufträge warteten, hatte er Zeit. Außerdem war er neugierig geworden.

      Benno Jäger blieb an Leos Seite, da er kein Wort der Unterhaltung mit Siggi verpassen wollte. Außerdem hoffte er, in Siggi einen Mitstreiter zu finden, um den fremden Kriminalkommissar von seinem Vorhaben abzubringen. Wie würde die arme Frau Leipert auf den riesigen Mann reagieren, dem man ansah, dass er selbstsicher und bestimmt auftrat und sich vor nichts fürchtete?

      Siggi war begeistert davon, dass sich ein Polizist für Frau Leipert interessierte und etwas unternehmen wollte, wozu er keinen Mut hatte. Er strahlte Leo und Benno Jäger geradezu an, als er wahrheitsgemäß auf die Fragen antwortete.

      „Das ist zusammenfassend das, was Herr Jäger auch aussagte“, murmelte Leo. „Sie haben als Postbote sicher eine gute Menschenkenntnis. Was haben Sie für einen Eindruck?“

      „Mir tut die Frau sehr, sehr leid. Ich bin davon überzeugt, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Sie gehört nicht in diese Gegend. Mir kommt es so vor, als würde sie sehr leiden.“

      „Seit wann lebt sie hier?“

      „Das müssten jetzt ziemlich genau vier Monate sein. Sie bezog diese Wohnung“, zeigte er auf die dritte Etage links. „Die Wohnung stand vorher lange leer. Keiner, der es sich leisten kann, zieht hier freiwillig ein.“

      Leo nickte nur. Er war entschlossen, mit der Frau zu sprechen, wovon ihn Benno Jäger erneut abhalten wollte, der Postbote allerdings nicht.

      „Ich weiß, was ich mache. Sie bleiben hier. Vielleicht ist es sogar besser, Sie gehen wieder zur Arbeit und Sie nach Hause.“

      Leo ging einfach los. Er musste herausfinden, was es mit den Texten der Postkarten auf sich hatte.

      Benno Jäger und Siggi Schindler dachten nicht daran, jetzt einfach zu gehen. Sie gingen zu Reidenbach, der ausgestiegen war und jetzt neben seinem Wagen stand.

      Carina Leipert, die im echten Leben einen ganz anderen Namen trug, hatte das Auto mit den Männern nicht gesehen. Auch das des Postboten nicht, auf den sie täglich sehnsüchtig wartete. Obwohl Carina mit ihrem Schicksal haderte, wusste sie nicht, dass in wenigen Minuten ein Mann vor ihrer Tür stand, der allem eine andere Wendung geben würde. Eine wahnsinnige, schreckliche Wendung, die sie nie für möglich gehalten hätte. Ihr altes Leben, in das sie so gerne zurück wollte, gab es nicht mehr.

      4.

      Christine Künstle war sauer. Sie ging durch die Altstadt, ohne die schönen Gebäude wahrzunehmen. In Gedanken war sie weit weg – nicht bei dem, was morgen beim Notar auf sie zukam, sondern bei Leo. Ahnte er denn nicht, wie sehr sie sich auf diese beiden gemeinsamen Tage gefreut hatte? Es ging ihr doch nicht um dieses Erbe. Ja, sie war neugierig, aber das war es auch schon. Große Reichtümer erwartete sie nicht. Sie freute sich auf etwas Zeit, die sie mit Leo verbringen konnte, und zwar nur mit ihm. Als Leo vor Jahren von Ulm nach Mühldorf am Inn strafversetzt wurde, brach ihr das fast das Herz. Viele Jahre hatten sie zusammengearbeitet – er als leitender Kommissar der Mordkommission, sie als Pathologin. Dann war er einfach verschwunden und alles war anders. Ja, sie konnte damals gut verstehen, warum er die Schuld für den missglückten Plan auf sich genommen hatte, aber deshalb war Leo trotzdem weg. Er war ihr Vertrauter, ihr bester Freund in Ulm gewesen, danach fühlte sie sich trotz der anderen Freunde und ihres Bruders allein. Nichts war mehr wie vorher. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, bis die unerbittliche Pensionierung sie erneut hart traf, die sie vor drei Jahren ereilte. Als die liebe Gerda, Leos Ersatzmutter und Vermieterin, ihr vor einem halben Jahr anbot, dass sie zu ihr auf den ausgebauten Bauernhof vor den Toren Altöttings ziehen solle, hatte sie sofort zugegriffen. Endlich waren Leo und sie wieder vereint, lebten sogar unter einem Dach. Sie hoffte auf die Vertrautheit, auf die vielen Gespräche, die es früher fast täglich gab, aber die blieben bisher aus. Sie nahm Rücksicht auf Leo, der von ihrem Einzug nicht begeistert war. Sie und Gerda waren überzeugt davon, dass sich alles entspannen würde, aber das war


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