Die Toten von Stade. Irene Dorfner
spürte den inneren Kampf der Frau.
„Reden Sie mit mir, ich kann Ihnen helfen. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, deshalb bin ich hier. Wenn ich Ihnen nicht helfen kann, stehe ich sofort auf und gehe, versprochen!“
„Man hat meinen Mann und meinen Sohn. Wenn ich mich nicht an alle Anweisungen halte, werden sie sterben. Ich werde beobachtet. Wenn man Sie gesehen hat, wird das in einer Katastrophe enden. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, bitte gehen Sie!“
„Gibt es Forderungen?“
„Nein, aber die können täglich eintreffen. Meine Familie hat Geld und wird jede Summe bezahlen.“
„Wie lange geht das schon?“
„Seit dem 9. November. An diesem Tag wurde ich nach einem Friseurbesuch gekidnappt und hierher gebracht. Man gab mir Anweisungen und drohte damit, meine Familie zu töten. Niclas und Reiner sind in Gefahr!“
„Das habe ich verstanden, bleiben Sie bitte ganz ruhig. Mir ist niemand gefolgt, mich hat niemand gesehen. Haben Sie versucht, irgendjemanden zu kontaktieren?“
„Wie sollte ich? Es gibt hier kein Telefon, keinen Fernseher und kein Radio. Es wurde mir untersagt, mit irgendjemandem zu sprechen. Die beobachten mich rund um die Uhr! Das ist kein Hirngespinst, sondern die Wahrheit. Ich versuchte ein einziges Mal, eine Tageszeitung während des Einkaufs mitzunehmen. Daraufhin bekam ich sofort einen Brief, das zu unterlassen. Man drohte, mir einen Finger meines Sohnes zu schicken, wenn ich mich nicht strikt an die Anweisungen halte! Ich werde beobachtet! Verstehen Sie nicht, dass Sie das Leben meiner Familie aufs Spiel setzen? Sie dürfen nicht hier sein!“
Leo sah die ängstliche Frau lange an. Konnte es sein, dass man jemanden dermaßen einschüchtern konnte? Wenn das stimmte, musste er schnell handeln, aber dafür musste sie mitarbeiten. Er musste behutsam vorgehen, um zu ihr durchzudringen und sie auf seine Seite zu ziehen.
„Ich gehe davon aus, dass Sie nicht Carina Leipert heißen?“
„Nein, der Name wurde mir gegeben. Ich heiße Carina Schweickert, meinem Vater gehört die Schweickert-Werft.“
Leo sagte das nichts, aber das war jetzt auch nicht wichtig.
„Ihr Mann heißt auch Schweickert?“
„Ja. Er nahm bei unserer Hochzeit meinen Namen an. Nicht freiwillig, mein Vater bestand darauf.“
Als Leo sein Handy hervorholte, zuckte Carina erschrocken zusammen.
„Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Ich werde Hilfe holen. Nicht von hier, von außerhalb. Niemand wird davon erfahren.“
Carina kämpfte mit einer Ohnmacht. Das, was hier gerade geschah, kam ihr vor wie ein Film, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Sie schloss die Augen und dachte an ihren Sohn, an schöne, unbeschwerte Stunden mit ihm.
Leo wählte und rief seinen Freund und Kollegen Hans Hiebler im heimischen Mühldorf am Inn an, da er hier in Stade niemanden kannte. Er brauchte jetzt jemanden, dem er vertrauen konnte, und da fiel ihm spontan nur Hans ein.
„Leo? Schön von dir zu hören. Wie ist es in Stade?“
„Beschissen. Kannst du etwas für mich überprüfen? Es geht um einen Reiner Schweickert und den Sohn Niclas. Im Zusammenhang steht die Schweickert-Werft.“
„Wo ist der Sitz der Firma? Wo wohnen die beiden Gesuchten?“
Leo wandte sich Carina zu und wiederholte die Fragen. Da sie sie zuerst wegen seines Dialektes nicht verstand, musste er sie auf Hochdeutsch wiederholen.
„Die Firma befindet sich im Industriegebiet Steinwerder, mein Mann, mein Sohn und ich wohnen in einem Vorort von Hamburg. Nur wenige Häuser entfernt lebt mein Vater mit seiner Frau Laura.“ Als Carina den Namen ihrer Stiefmutter aussprach, fühlte sie sich noch schlechter, denn sie hasste die neue Frau ihres Vaters abgrundtief. Laura machte keinen Hehl daraus, dass sie nur des Geldes wegen geheiratet hatte, was Carina nicht gutheißen konnte. Sie hatte ihren Vater angebettelt, die dralle Brünette nicht zu heiraten, aber der schien blind vor Liebe zu sein und schlug alle Warnungen in den Wind.
Leo wiederholte die Antworten der Frau, die Carina jetzt wiederum kaum verstand. Was war das für ein Kauderwelsch, den der Mann sprach?
„Alles klar, ich kümmere mich darum.“ Hans verstand sofort, dass es um etwas Ernstes gehen musste, denn dafür kannte er Leo viel zu gut. In was war er hineingeraten? „Sobald ich etwas habe, rufe ich dich an.“
Es dauerte nicht lange, bis Hans sich meldete. Das Klingeln des Handys ließ Carina zusammenzucken.
„Herr Schweickert vermisst seine Frau seit dem 9. November letzten Jahres. Ich habe mit ihm und auch mit dem Vater gesprochen, alle machen sich riesige Sorgen.“
„Du hast hoffentlich nicht erwähnt, dass du Polizist bist?“
„Selbstverständlich nicht. Ich rief mit unterdrückter Nummer an und gab vor, eine Reportage über die Schweickert-Werft zu bringen. Dass die vermisste Tochter dabei eine Rolle spielt, haben beide Männer verstanden. Reiner Schweickert hat angedeutet, dass seine Frau Carina psychische Probleme hat.“
„Ich verstehe“, murmelte Leo.
„Die Familie und auch die Firma genießen einen sehr guten Ruf, aber da hake ich nach. Für meine Begriffe alles zu sauber und geleckt, das gefällt mir nicht.“
„Sehr gut, mach das. Aber geh vorsichtig vor.“
„Um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Was ist los bei dir?“
„Die Frau sitzt vor mir.“ Konnte Leo vor der Frau das aussprechen, was er vermutete? Und wenn er sich täuschte? „Ich gehe davon aus, dass man sie gelinkt hat“, entschied er, Hans seine Meinung mitzuteilen.
„Nicht dein Ernst, oder?“
„Sie sitzt völlig eingeschüchtert in einer heruntergekommenen Wohnung in Stade und sagt, dass man sie hierher gebracht hat und sie bedroht. Man beobachtet sie offenbar rund um die Uhr. Sie bekam Anweisungen, an die sie sich zu halten hat, sonst würden es Mann und Kind zu spüren bekommen.“
„Danach sieht es nicht aus. Dem Ehemann und dem Sohn scheint es gut zu gehen. Die Bilder der letzten Wochen in den Medien, auf denen beide abgebildet sind, sprechen für sich. Wenn das stimmt was du sagst, wäre das Wahnsinn. Könnte es nicht sein, dass dir die Frau einen Bären aufbindet?“
„Nein, das denke ich nicht. Es gibt Beweise dafür, dass sie die Wahrheit sagt. Postkarten, die Anweisungen enthielten, wurden zwar vernichtet, aber ich habe zwei Zeugen.“
„Was hast du jetzt vor?“
„Ich werde versuchen, die hiesigen Kollegen zu kontaktieren.“
„Und wenn die nicht mitspielen?“
„Dann muss ich mir etwas einfallen lassen.“
„Mach bitte keinen Blödsinn!“
„Was würdest du denn an meiner Stelle machen?“
Hans nickte nur, auch wenn Leo das nicht sehen konnte. Ja, er würde genauso handeln.
„Pass auf dich auf und halt mich auf dem Laufenden. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues für dich habe.“
Carina sah Leo mit großen Augen an. Hatte sie richtig verstanden?
„Reiner und Niclas geht es gut?“
„Ja, ihnen geht es gut.“
„Die Entführer haben sie freigelassen?“
Leo nickte nur, woraufhin die Frau erleichtert weinte. Sollte er ihr sagen, dass er nicht an einen Entführer glaubte? Und wenn er mit seiner Vermutung falsch lag? Der Familie ging es gut, diese Information reichte vorerst aus.
Nach dem Telefonat machte sich Hans sofort an die Arbeit. Er suchte sofort nach mehr Informationen über die Firma Schweickert