Die Toten von Stade. Irene Dorfner
würde. Seit Weihnachten stand die Hochzeit von Leo mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Sabine Kofler ins Haus, auf die sich alle freuten. Christine hoffte darauf, dass sich mit der Aufregung und den vielen Vorbereitungen die Wogen glätten würden, aber Leo verhielt sich unverändert. Als der Brief des Notars Boll ins Haus flatterte, sah Christine ihre Chance gekommen. Die darin angekündigte Erbschaft an sich war interessant, aber nicht wichtig. Das war eine sehr gute Gelegenheit, mit Leo allein zu sein und mit ihm endlich in Ruhe sprechen zu können. Leos Verlobte Sabine Kofler, die mitten im Umzug nach Altötting steckte und auch wegen der bevorstehenden Hochzeit im Mai jede Menge um die Ohren hatte, war mit Christines Plan sofort einverstanden. Auch ihr passte das Verhältnis zwischen Leo und Christine nicht. Wie sollten sie mit ungeklärten Dingen in Ruhe alle unter einem Dach wohnen? Damit waren Probleme vorprogrammiert, auf die sie gerne verzichten konnte.
Christine hatte Leo überrumpelt, das musste sie zugeben, aber wie sonst hätte sie ihn dazu bringen können, mit ihr nach Stade zu fliegen? Und jetzt? Leo war verschwunden und sie lief allein durch die Altstadt. Wann er zurück war? Sie wusste es nicht. Könnte es nicht sein, dass er sogar den Braten roch und ihr absichtlich aus dem Weg ging?
Je länger Christine darüber nachdachte, desto verrückter wurden ihre Gedanken. Dann blieb sie stehen. Ungläubig sah sie die vielen Yachten in dem Hafen an. Wie war sie hier hergekommen? Völlig außer Atem setzte sie sich auf eine Mauer. Schnell versammelten sich zahllose Möwen um sie herum. Da sie nichts bei sich hatte, was für die Vögel interessant war, und sie sich auch sonst ruhig verhielt, verloren die Tiere schnell das Interesse an ihr. Sie beobachtete, wie ein wunderschönes Segelboot in den Yachthafen fuhr. Als es näherkam, konnte sie den Namen Calimero lesen. Sofort kam ihr das Lied der Zeichentrickserie in den Sinn: Calimero, aus Palermo. Sie summte das Lied vor sich hin und sofort wurde die Laune besser. Da das Segelboot nicht weit weg von ihr anlegte, bekam sie etwas zu sehen, was ihr sonst entgangen wäre. Der Kapitän ging sehr geschickt vor. Er trug eine dieser albernen Mützen, wie sie auch im Fernsehen oft zu sehen waren und wie es sie in jedem Ramschladen in Küstennähe zu kaufen gab. Gekonnt machte der Mann das Boot fest, was Christine bewunderte. Dann schloss er die Kajüte und ging von Bord, diesmal ohne diese affige Mütze. Er lief direkt an ihr vorbei.
„Grüß Gott“, grüßte sie den Mann, auch wenn sie die Ältere war. Das war ihre Art. Höflichkeit kostete nichts, deshalb grüßte sie jeden.
Der Mann sah sie nur kurz an und drehte den Kopf wieder zur Seite.
„Arroganter Schnösel“, sagte Christine. Belustigt stellte sie fest, dass er sie gehört hatte. Wenn er sich jetzt umdrehte und sie dumm anmachte, war sie darauf gefasst. Vor einer Auseinandersetzung hatte sie noch nie Angst gehabt. Aber der Mann ging einfach weiter. Komisch.
Christine stand irgendwann auf und ging weiter. Das große, grüne Schiff mit Namen Greundiek zog sie magisch an. Ungläubig stand sie vor dem Museumsschiff – das musste sie sich ansehen. Sie kam mit einem netten Mann ins Gespräch, der ihr stolz das alte Schiff zeigte, das von vielen Freiwilligen instandgehalten wurde. Sie erfuhr, dass hier ein breit gefächertes Spktrum an Veranstaltungen möglich war. Sie machte viele Fotos, die sie nicht nur Leo, sondern zuhause allen zeigen konnte.
Sie schlenderte weiter, denn Zeit hatte sie genug. Wenn Leo sie brauchte, wusste er, wo er sie finden konnte. Sie entdeckte einen Stand, an dem Fischbrötchen verkauft wurden. Lecker. Sie kam mit dem Verkäufer ins Gespräch - von ihrer üblen Laune war inzwischen nichts mehr zu spüren. Auch die Möwen hatten sie wieder ins Visier genommen und scharrten sich um sie, da sie an ihrem Brötchen interessiert waren. Sie kaufte zwei Brötchen, die sie verfütterte. Dass das nicht gerne gesehen war, war ihr gleichgültig.
Christine hatte die Begegnung mit dem unhöflichen Mann längst vergessen. Dass sie noch mit ihm zu tun bekäme, ahnte sie nicht.
5.
Die Klingel der Wohnung schien nicht zu funktionieren, Leo hörte keinen einzigen Ton. Er begann zu Klopfen. Da er nicht vorhatte, klein beizugeben, klopfte er schließlich ohne Unterbrechung.
Carina erschrak. Sie hatte strikte Anweisung, mit niemandem Kontakt aufzunehmen und mit niemandem auch nur ein Wort zu wechseln. Vorsichtig sah sie durch den Türspion. Ein fremder Mann. Sie nagte hektisch an ihren Fingernägeln, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Wann ging der Mann endlich wieder? Dann kam ihr die Idee, dass es vielleicht derjenige war, der ihren Mann und den Sohn in seiner Gewalt hatte. Konnte es sein, dass dieser Alptraum endlich ein Ende hatte?
Leo hatte durch den Türspion gesehen, dass jemand da sein musste. Er wartete und klopfte ununterbrochen, denn er war sich sicher, dass ihm irgendwann die Tür geöffnet wurde. Wenn er etwas wollte, konnte er echt nervtötend werden. Endlich hörte er, wie langsam und fast zaghaft der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Leo sah nur einen Teil des Gesichts einer jungen Frau. Er hielt ihr seinen Ausweis vor und reichte den Zettel mit den beiden Sätzen durch den Türspalt.
Carina war erschrocken. Spontan schloss sie die Tür wieder. Polizei! Zitternd las sie die beiden Sätze, die sie sehr wohl kannte. Woher wusste die Polizei davon? Und was wollten sie von ihr? Ob sie Reiner und Niclas gefunden hatten? War der Mann deshalb hier? Um ihr die Todesnachricht zu überbringen? Ihr wurde schlecht, sie war kurz davor, sich zu übergeben. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass die Polizei vor ihrer Tür stand? Das konnte nicht sein, denn sonst hätten sie die Texte nicht. Warum nur diese beiden Sätze und nicht alle? Carina war hin und hergerissen. Ihrem Magen ging es immer schlechter. Das Gefühl kannte sie sehr gut, denn seit sie gekidnappt wurde, hatte sie Magenschmerzen, die immer schlimmer wurden. Sie zitterte und war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Die Minuten vergingen. Was sollte sie jetzt tun? Der Polizist, der vor ihrer Tür stand, würde sich nicht abwimmeln lassen, das war ihr klar. Was war, wenn er nicht wegen Reiner und Niclas hier war? Was würde mit ihr und den beiden liebsten Menschen in ihrem Leben geschehen?
Leo wartete geduldig. Je länger er hier stand und je länger die Frau nachdachte, desto sicherer war er sich, dass etwas nicht stimmte und die Frau dringend Hilfe brauchte.
Dann endlich öffnete sich die Tür erneut. Gerade so viel, dass Leo eintreten konnte. Auf der Anrichte lag sein Ausweis, den er wieder an sich nahm. Den Zettel mit den beiden Sprüchen ließ er liegen, er kannte sie inzwischen auswendig. Carina ging voraus und setzte sich auf das schäbige Sofa. Leo sah sofort, dass die blonde Frau niemals hierhergehörte, der alte Herr Jäger und der Postbote lagen völlig richtig mit ihrer Annahme. Leo setzte sich ihr gegenüber.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Was ist hier los?“, fragte er ruhig und so hochdeutsch wie möglich, was für einen Schwaben echt anstrengend war.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Carina und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Es war lange her, dass sie gesprochen hatte.
Die Frau hatte Angst und schien eingeschüchtert. Das könnte aber auch eine Falle sein. Leo ließ sich von seinem ersten Eindruck nicht leiten.
„Was ist mit diesen Sätzen?“, stellte er sie auf die Probe. Er hatte nicht lange gebraucht, um hinter das Geheimnis zu kommen, denn so kompliziert war der Code nicht.
Carina sah Leo an. Wusste er denn nichts? Warum sonst war er hier?
„Das wissen Sie doch.“
„Ja, das weiß ich. WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS – bedeutet WARTEN. - AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN – bedeutet ALLES OK. Wenn man weiß, dass man nur die Anfangsbuchstaben lesen soll, ist das sehr einfach. Können Sie mir auch die anderen Postkarten zeigen?“
„Nein, die sind alle verbrannt, das war eine Anweisung. Sobald ich die Postkarten gelesen hatte, sollte ich sie verbrennen.“
„Das ist schade, aber nicht tragisch. Warum das alles? Mit was werden Sie unter Druck gesetzt?“
Carina zögerte. Ihr war es lieber, wenn der Fremde endlich gehen würde, allerdings tat es auch gut,