Seal Team 9. Sarah Glicker
meistens war es sogar noch öfter.
Ja, ich war kein Musterschüler und bin sehr oft aus der Reihe getanzt. Erst bei der Navy hat es sich gebessert und ich habe angefangen, mich an manche Regeln zuhalten.
Meine Eltern hatten sich einen Spaß daraus gemacht und gemeint, sie hätten mich schon eher hinschicken sollen, wenn sie das gewusst hätten. Ich habe es ihnen nicht immer leicht gemacht. Doch ich bin froh darüber, dass sie es mir nie krumm genommen haben. Stattdessen haben sie mich immer unterstützt, damit ich meine Ziele erreiche.
Und dann bin ich ein Navy Seal geworden.
„Vielleicht sollten wir uns über Ihre Kindheit unterhalten“, erklärt er schließlich und bricht so das Schweigen, welches sich in den letzten Minuten zwischen uns ausgebreitet hat.
Ich ziehe meine Augenbrauen ein Stück nach oben und zeige ihm so, dass ich keine Ahnung habe, was er damit bezwecken will. Und die Tatsache, dass er nicht näher darauf eingeht, zeigt mir, dass er will, dass ich etwas von mir gebe.
„Meine Kindheit?“, frage ich ihn schließlich, als er auch nach einer Ewigkeit keine Anstalten macht, mir zu antworten.
Nun bin ich derjenige, der ihn keine Sekunde aus den Augen lässt. Ich versuche seine Körpersprache zu lesen. Doch dafür kenne ich ihn nicht gut genug.
„Sie haben mich richtig verstanden. Wie war das Verhältnis zu Ihren Eltern? Haben Sie Geschwister? Wo sind Sie aufgewachsen? Ich würde gerne mehr über Sie erfahren.“
Mir ist bewusst, dass er das durchaus ernst meint. Dennoch kommt es mir so vor, als würde er sich einen Scherz erlauben.
„Das Verhältnis zu meinen Eltern war gut und das ist es auch jetzt noch. Die Antworten auf die anderen beiden Fragen stehen bestimmt in meiner Akte“, antworte ich, wobei ich nicht für mich behalten kann, dass ich ein wenig genervt bin.
Wenn es etwas gibt, worüber ich mich noch weniger unterhalten will, dann ist es definitiv meine Kindheit. Das hat nichts damit zu tun, dass sie scheiße war. Doch sie ist schon lange her und hat nichts mit diesem Problem zu tun.
Allerdings würde mich interessieren, wie er nun auf dieses Thema kommt.
„Es steht alles in Ihrer Akte, in diesem Punkt haben Sie recht. Es ist jedoch so, dass es nicht Sinn der Sache ist, wenn wir hier wieder eine Stunde sitzen und uns anschweigen. Daher dachte ich mir, dass wir uns auch über etwas unterhalten können, mit dem Sie keine Probleme haben. Und wenn ich das richtig mitbekommen habe, ist das mit Ihrer Kindheit eindeutig der Fall. Zumindest konnte ich nichts Gegenteiliges darüber in Erfahrung bringen.“
Seufzend fahre ich mir über den Nacken und versuche so die Verspannungen in meinen Muskeln zu lösen, die immer größer werden. Allerdings gelingt mir dies nicht so gut, wie ich es gerne hätte.
„Sie wollen sich also tatsächlich über meine Kindheit unterhalten?“, frage ich ihn ein weiteres Mal.
„Berichten Sie mir etwas, was nicht in dieser Akte steht. Was waren Ihre Hobbys? Wer war Ihr bester Freund?“
Während er spricht, deutet er auf den Papierhaufen, der zwischen uns auf dem Tisch liegt. Nachdenklich sehe ich ihn an. Es gibt einiges, was nicht dort steht. Und das aus dem einzigen Grund, weil es nie wichtig war.
Allerdings sind es auch viele Dinge, bei denen ich mir sicher bin, dass ich meinen Job verlieren würde, wenn ich sie jemanden erzählen würde. Und das will ich nun wirklich nicht. Daher behalte ich sie nun auch für mich.
„Ich habe mit meinen Freunden das gemacht, was alle Jungs auf dem Land tun“, sage ich also.
Ich hoffe, dass diese Worte diplomatisch genug sind und er sie akzeptiert. Doch als ich einen Blick in sein Gesicht werfe erkenne ich das freche Funkeln in seinen Augen und weiß, dass er mich richtig verstanden hat.
„Was haben Sie denn gemacht?“, erkundigt er sich nun.
Seufzend lasse ich mich nach hinten sinken. Dabei krame ich in meinem Gedächtnis nach etwas, was ich ihm berichten kann. Schließlich finde ich etwas, was nicht ganz so schlimm ist.
„Wir haben Trecker im See versenkt, gegen Stromzäune gepinkelt und solche Sachen.“
Ich zucke mit den Schultern und zeige ihm so, dass es keine große Sache war.
Kurz habe ich die Hoffnung, dass er nun doch das Thema wechselt. Doch in der nächsten Stunde zeigt er mir, dass er das nicht vorhat.
Wir unterhalten uns über alles Mögliche, was in meiner Kindheit passiert ist. Ich bin froh darüber, dass er dieses Thema angesprochen hat, obwohl ich weiß, dass er so nur das Eis zwischen uns brechen wollte. Doch ich habe auch keine Lust, mich über den eigentlichen Grund zu unterhalten, wegen dem ich hier bin. Ich habe es ihm in den letzten Wochen schwer genug gemacht, da will ich ihm wenigstens dieses Erfolgsgefühl geben.
„Sehen Sie? Das war ja eigentlich gar nicht so schwer. Das nächste Mal schaffen wir es, uns über das zu unterhalten, was in Syrien geschehen ist.“
Mir ist bewusst, dass er sich seiner Sache sicher ist. Doch diese Sicherheit werde ich ihm schnell wieder nehmen, wenn es so weit ist.
„Das wichtigste ist, dass die Geschehnisse meinen Job nicht beeinflussen wird. Daher werde ich mich auch nicht darüber unterhalten. Es ist nicht immer gut, wenn man sich über alles unterhält“, erkläre ich ihm, während ich die Tür öffne. „Ich wurde während meiner Ausbildung darauf vorbereitet, dass so etwas geschehen kann. Aus diesem Grund war es keine Überraschung für mich. Bei jedem Einsatz kann etwas schiefgehen und man landet in dieser Situation.“
Mit diesen Worten drehe ich mich herum, halte jedoch mitten in der Bewegung sofort inne, noch bevor ich den Flur richtig betreten habe.
Nur wenige Schritte von mir entfernt, steht die Frau, mit der ich hier überhaupt nicht gerechnet habe. Und ehrlich gesagt sieht sie nicht so aus, als wäre sie ein Patient. Nein, sie hat ein Namensschild an der Bluse und weißt sich so als Mitarbeiterin aus.
Geduldig bleibe ich an Ort und Stelle stehen. Es dauert einen Moment, doch dann dreht sie ihren Kopf in meine Richtung und entdeckt mich auch.
Im ersten Moment macht es den Eindruck auf mich, als würde sie nicht genau wissen, wie sie darauf reagieren soll, dass ich ihr ausgerechnet hier über den Weg laufe. Verwunderung macht sich in ihrem Gesicht breit, während sie mitten im Flur stehen bleibt.
Aber ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, wie ich mich verhalten soll. In der nächsten Sekunde kneift sie jedoch ihre Augen ein Stück zusammen.
In diesem Moment weiß ich, dass sie die Überraschung überwunden hat. Sie stemmt die Hände in die Hüften und sieht mich herausfordernd an.
Gleichzeitig erkenne ich aber auch das Funkeln in ihren Augen, welches mich beinahe anzieht, als wäre es ein Magnet.
Einen Moment denke ich darüber nach, ob ich darauf eingehen soll. Mir liegen bereits ein paar Worte auf der Zunge, die ich von mir geben könnte. Dann entscheide ich mich dafür, dass ich mir diese Chance nicht entgehen lassen kann.
Dabei ist es mir egal, dass sie hier arbeitet und er mein Arzt ist.
Daher verabschiede ich mich von dem Arzt und gehe dann zu ihr.
„Wieso wundert es mich nicht, dass du hier bist?“, frage ich sie und bleibe dicht vor ihr stehen.
Da ich ein Stück größer bin als sie, muss sie ihren Kopf ein wenig in den Nacken legen, damit sie mich ansehen kann. Dabei komme ich nicht drumherum zuzugeben, dass ich ihr vielleicht etwas zu nah gekommen bin. Das macht mir vor allem die Tatsache klar, dass ihr Parfüm mir in die Nase steigt.
Es lenkt mich ein wenig ab, sodass ich mich zusammenreißen muss, damit ich mich wieder auf unsere Unterhaltung konzentriere. Gerade gehen mir nämlich auch Bilder von Dingen durch den Kopf, die ich auch mit ihr machen könnte.
„Im Gegensatz zu dir arbeite ich hier. Ich kann diese Erkenntnis also durchaus zurückgeben.“