Ich töte wen ich will. Fabio Stassi

Ich töte wen ich will - Fabio Stassi


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Labrador führte ihn. Der Hund war auf Corso zugekommen und hatte seine Hosen beschnüffelt, während sein Herrchen einen Platz suchte. Als er saß, hatte der Blinde den Kopf an die Wand gelehnt und sich dann, fast zerstreut, die Brille abgenommen, um sich die Stirn abzuwischen. Corso hatte den Eindruck, dass in der grauen Iris seiner Augen auch die Pupillen fehlten, doch er konnte das nicht überprüfen, weil der Blinde sie sofort wieder hinter den Brillengläsern versteckte. Dann zog er ein Buch mit einem weißen, glänzenden Umschlag aus seiner Jackentasche und begann, mit den Fingern darin zu lesen.

      Kurz darauf trat die Ärztin mit den roten Haaren auf den Flur hinaus, endlich. Corso ging auf sie zu, ohne seine Besorgnis zu zügeln, doch sie musste ihn bremsen. Auch wenn er die Nacht überstehen würde, könne man keine Prognose wagen: Ihr Hund kämpft jetzt zwischen Leben und Tod, sagte sie, genau so, zwischen Leben und Tod, der Ausgang hinge allein davon ab, wie er auf die Behandlung reagiere und wie tief das Gift in ihn eingedrungen sei. Vorerst habe sie ihn sediert und in ein künstliches Koma versetzt, doch sie wisse nicht, wie lange sich dieser Zustand aufrechterhalten ließe.

      »Ich habe alles getan, was möglich ist, glauben Sie mir, gehen Sie und ruhen Sie sich aus.«

      Corso bat darum, ihn einen Moment lang sehen zu dürfen. Wortlos führte die Ärztin ihn zum letzten Zimmer auf dem Flur.

      Django lag auf dem Boden, abgeschirmt, zwischen Plastikwänden, ein Infusionsschlauch war mit einem blauen Pflaster an seinem Hinterlauf, ein anderer am Vorderlauf befestigt. Aus dem Infusionsbeutel floss eine durchsichtige Flüssigkeit im konstanten Rhythmus von einem Tropfen alle drei, vier Sekunden. Von Zeit zu Zeit durchzuckte ein Zittern Djangos Körper, was auch nachts häufig geschah, wenn er schlief, und die Maske des Beatmungsgeräts beschlug bei jedem Atemzug.

      Als Corso ins Wartezimmer zurückkehrte, war niemand mehr da, nur ein weißes Buch lag auf dem Stuhl neben seinem. Der Titel war in Brailleschrift auf das Cover geprägt.

      »Er ist soeben gegangen«, sagte die Sekretärin, während auch sie sich anschickte, die Klinik zu verlassen. »Wenn Sie sich beeilen, holen Sie ihn bestimmt noch ein.«

      Corso nahm das Buch an sich und ging hinaus. Draußen hielt eine endlos lange sommerliche Abenddämmerung die Stadt noch immer umhüllt, doch die Hitze schien sich abgeschwächt zu haben, man spürte den Hauch eines leichten Seewinds von Westen.

      W

       Je vois qu’passer du brouillard sur mes yeux

      Er hatte sie gerade noch um die Ecke biegen sehen, doch als er bei der Ampel ankam, waren sie verschwunden. Unter den Passanten, die auf der Allee Richtung Bahnhof unterwegs waren, keine Spur von einem Blinden und seinem Hund. Er schritt schneller aus und folgte wieder den Straßenbahngleisen in der Via Carlo Felice. Zweimal meinte er, sie hundert Meter vor sich zu erspähen, doch beide Male verlor er sie wieder. Unter einer Treppe kamen die Klänge eines Xylophons und eines Schlagzeugs hervor, zwei ungewöhnliche Instrumente für einen Sommerabend wie diesen.

      Als er auf der Piazza Vittorio ankam, war es, als hätten die Straßen sich mit Blinden gefüllt: eine Frau mit grauen, im Nacken zusammengebundenen Haaren und einem Metallschild um den Hals verkaufte getrocknete Blumen; ein anderer klopfte in regelmäßigen Abständen mit dem beschlagenen Knauf seines Stocks gegen die Mauern der Arkaden; ein Dritter mit einer Ledertasche vor der Brust stand im Eingang der Apotheke. Der Mann, den er verfolgte, saß an einem Tischchen des Kiosks auf der anderen Straßenseite, der schwarze Hund kauerte zu seinen Füßen. Corso schien, als lächelte er.

      Er wartete nicht, bis die Ampel auf Grün umsprang und stürzte sich zwischen die rasselnden Straßenbahnen und die wenigen Autos. Doch jeder Schritt ohne Django war ein hinkender Schritt, das erfasste er jetzt voll und ganz. In den letzten Monaten hatte dieses Tier ihm als Kompass und Anker gedient und ihn am Boden gehalten, nicht die Arbeit, die er sich ausgedacht hatte, und auch seine gelegentlichen Liebschaften nicht, die ein paar kurze, leuchtende Nachmittage lang seine Einsamkeit gelindert hatten. Wenn Django die Nacht nicht überlebte, würde er von nun an mit diesem Schritt durch die Welt gehen müssen.

      In dem Moment hupte einen Meter neben ihm ein wütender Autofahrer, weil Corso mitten auf der Kreuzung stehengeblieben war, unschlüssig, ob er weitergehen und umkehren sollte. Hätte der Mann ihn höflich darum gebeten, Corso hätte ihm Platz gemacht und sich entschuldigt. Doch der Mann hatte wie ein Irrer auf seine Hupe eingeschlagen, und wer weiß, was noch passiert wäre, wenn seine Frau ihm nicht gesagt hätte, er solle nachgeben, sah er denn nicht, dass er den König der Idioten vor sich hatte? Das Auto schaltete in einen hektischen Rückwärtsgang, umfuhr das Hindernis mit ein paar Manövern und raste unter Beschimpfungen davon. Erst als der Wagen am Ende der Straße verschwand, kam Corso wieder zu sich und beschloss, endlich die Straße zu überqueren.

      Er ging an der langen Gitterschranke an der Straßenbahnhaltestelle entlang, doch als er beim Kiosk ankam, waren alle Tischchen leer. Er drehte sich um. Auch die Bettlerin mit den Blumen war verschwunden, die anderen Blinden in den Arkaden waren ebenfalls nicht mehr zu sehen. Er legte das Buch auf einen Tisch in seiner Nähe und ließ sich auf einen Metallstuhl fallen, von einer Art Seekrankheit überwältigt.

      Das Erste, was bei ihm ankam, war das Kreischen der Räder. Dann die Schreie zweier Frauen auf dem Gehweg und schließlich die Schreie der Menschen in der Straßenbahn 19: ein Mann war auf den Gleisen ausgerutscht und gestürzt. Vielleicht war es ein aufblitzender Strahl der untergehenden Sonne in einem Fenster, vielleicht ein Steinchen unter dem Schuh, vielleicht das Öl, das eine vom Markt kommende Frau vergossen hatte. Die Frau am Steuer der Straßenbahn hatte entsetzt die Bremse gezogen und der Wagen hatte etwas wie das Trompeten eines Elefanten von sich gegeben, doch die Tram war bereits in die Kurve gefahren und rollte nun dank des Trägheitsmoments weiter. Einige Passagiere waren hingefallen, andere hatten sich mit aller Kraft an die Eisenstangen geklammert, einer hatte sich die Tasche vors Gesicht gehalten, war aber hart gegen das Fenster geprallt. Ein Knall, wie etwas, was zerplatzt. Glassplitter, die der Fahrerin entgegen spritzen, andere, die nach draußen auf die Gleise fliegen, die Straßenbahn, die abrupt zum Stehen kommt. Als der Lärm des Unfalls einer eisigen Stille wich, rollte auf den dunklen Pflastersteinen Roms eine rote, unförmige Kugel über die leichte Neigung an dieser Stelle der Straße. Corso sprang auf, wollte instinktiv zum Unfallort eilen … Mit Grauen sah er, dass der abgetrennte Kopf eines Passanten langsam auf ihn zu rutschte. Ekel lähmte seine Glieder und verschleierte ihm den Blick.

      Wenige Minuten später war der Platz voller Krankenwagen und Streifenwagen der Polizei. Viele Frauen hatten einen Schock erlitten und wurden weggebracht, die von den Glassplittern verletzte Straßenbahnfahrerin erhielt erste Hilfe. Es ist nicht meine Schuld, sagte sie unaufhörlich, es ist nicht meine Schuld. Der Leichnam des Opfers wurde mit einem glänzenden Tuch bedeckt, doch man konnte ihn erst fortschaffen, als alle Untersuchungen, die ein solcher Fall erforderte, abgeschlossen waren.

      In der Via Carlo Felice und den anderen Verkehrsadern des Viertels bildete sich eine Schlange aus Autos, Touristenbussen und Straßenbahnen, die eine hinter der anderen stillstanden wie eine geordnete Reihe Ameisen, während unter den Arkaden die Schar der Neugierigen stetig wuchs. Es dauerte über eine Stunde, bis der Platz wieder geräumt war. Einige chinesische Barbetreiber, die an der Ecke arbeiteten, kümmerten sich darum, die Blutlache, die sich noch immer auf den Gleisen ausbreitete, mit Sägemehl zu bestreuen.

      Corso beobachtete das traurige Durcheinander. Seine Augen konnten sich nicht von der runden Masse am Boden lösen, die mitleidige Hände mit einem Laken vor der morbiden Neugier der Menschen geschützt hatten. Das hätte ihm selbst passieren können. Wenn er noch später dran gewesen wäre, wenn er nicht diesem Blinden gefolgt wäre, wenn er es geschafft hätte, ihm das Buch wiederzugeben, das er noch immer bei sich trug … Ein Polizist, der die Aussagen der Augenzeugen aufnahm, kam, um ihm einige Fragen zu stellen. Der Tote war noch keine vierzig Jahre alt, und dem Anschein nach ein holländischer Tourist.

      Er brauchte eine weitere halbe Stunde, bevor er Kraft genug hatte, um den Nachhauseweg anzutreten. Die Tür seiner Dachwohnung ließ sich mühelos öffnen, aber die Unordnung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er wusste, in welchem Zustand er die Wohnung verlassen hatte,


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