Ich töte wen ich will. Fabio Stassi

Ich töte wen ich will - Fabio Stassi


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derart durcheinandergebracht hatten und das innerhalb so kurzer Zeit. Außer den Hängeschränken in der Küche und dem Waschbecken war nichts mehr an seinem Platz, selbst der Kühlschrank war von der Wand abgerückt worden.

      Er schob die Bücher mit den Füßen beiseite und kniete nieder, um sie zu kleinen Stapeln aufzuhäufen. Die zerbrochenen Platten fegte er weg. Léo Ferré, Cheb Bami, Charles Aznavour, Juliette Gréco, Georges Moustaki … Er zerrte den Lederstuhl dorthin, wo er immer gestanden hatte, hob die Schreibtischschubladen vom Boden auf und sammelte die herausgerissenen Buchseiten und andere, auf dem Parkett verstreute Papiere ein. Zuletzt stieg er auf den Hängeboden und legte alle aufs Bett geworfenen Kleidungsstücke zusammen. Nachdem er sie wieder im Schrank verstaut hatte, öffnete er in der Küche die Kaffeedose auf dem Fensterbrett, füllte die Espressokanne und stellte sie auf den Herd.

      In dieser Nacht zündete Corso sich eine der Gitanes aus seinem Vorrat an, nach der er sich den ganzen Tag lang gesehnt hatte und begann, einen Brief an seinen Vater zu schreiben. Auch dies war im Grunde eine abgebrochene Beziehung ja, die Mutter aller Beziehungen, die er in seinem Leben abgebrochen hatte. Er setzte sich in die Mitte des Zimmers, das monatelang sein Refugium gewesen war, wie in die Mitte eines geschändeten Hauptquartiers und schlug ein Notizbuch mit rotem Einband auf, das wer weiß woher aufgetaucht war. Solche Notizbücher besaß er zu Dutzenden, zwischen den Büchern verstreut, denn er war überzeugt, dass der Moment kommen würde, da er sie brauchte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er dieses auf einer Reise durch Nordspanien gekauft. Er glättete den Falz mit einem Finger, leckte an der gerundeten Ecke der Seiten und begann:

      Lieber Vater,

      bis jetzt habe ich dir nur Ansichtskarten geschrieben, jahrelang, jeden Tag, an die Adresse des Hotels, wo du mich gezeugt hast, die einzige Verbundenheit, die das Leben uns gewährt hat, unsere vereinbarte, schicksalhafte Adresse. Eine Unzahl fragmentarischer Sätze, nichts als das, denn du und ich, wir haben keine gemeinsamen Erinnerungen, also auch nicht Liebe noch Hass, keine Anhäufung von Vorwürfen und Ressentiments, keine Anschuldigung, kein Tadel, diese stillschweigende Verschwörung der Spiegel, wie sie immer zwischen einem Vater und einem Sohn herrscht und sich manchmal in einen tödlichen Kampf verwandelt, manchmal in die verheerendste Zuneigung zu dem, der uns vorausgeht oder uns folgt, das hängt von der Rolle ab, die uns bei dieser unvermeidlichen, und ja, geradezu klassischen Komödie zugewiesen wurde.

      Die Worte ergaben sich von selbst, ohne dass er sie suchen musste, ja ein paar Sätze erwiesen sich als überflüssig, waren folglich zu streichen.

      Heute Abend will ich dir aber einen abschließenden Brief schreiben. Einen unmöglichen Brief an einen inexistenten Adressaten. Du hast mich vom »Spiegeln« befreit und vom Wettkampf, mithin sowohl von der Rivalität als auch vom Nacheifern. Dennoch bist auch du, wie K. an einen sehr viel dominanteren Vater schrieb, für mich das Maß aller Dinge gewesen. Dein Sohn zu sein, bedeutet, ein Sohn der Abwesenheit zu sein, aufgrund von Genetik und Schicksal einer Familie von Gespenstern anzugehören, Blutsbande mit den Schatten geschlossen zu haben.

      Er hob den Stift vom Blatt. Ging einen Lappen mit Wasser tränken und fuhr damit über die Stelle, wo er Django gefunden hatte. Das Blut aus seiner Nase war auf dem Parkett zu kleinen dunklen Flecken geronnen. Sie wirkten wie eine natürliche Verfärbung des Holzes, doch er brauchte nur kräftig zu reiben, um sie zu entfernen. Er wrang den Lappen mehrmals aus, und das Wasser im Eimer wurde erst trübe, dann dunkel. Als er ihn im Bad ausgoss, spürte er, wie ihn die ganze Müdigkeit der letzten Stunden überfiel. Die restlichen Dinge würde er morgen aufräumen.

      Zurück am Schreibtisch, klappte er das Notizbuch zu und ließ es auf dem Tisch liegen, auch den Brief verschob er auf einen späteren Zeitpunkt. Er zog sein schmutziges Hemd aus und warf sich aufs Bett, breitete die Arme aus und öffnete die Handflächen zur Decke. Gijón, dieses Notizbuch hatte er in Gijón in Asturien gekauft. Er war dort hingefahren, weil er eine Skulptur an der Küste vor dem Ozean sehen wollte. Das waren seine Obsessionen aus früheren Zeiten: die Grenzen der Welt sehen, sie fotografieren, daraus eine Karte zusammenstellen. Bis jetzt hatte er nur die näheren Grenzen besucht und alle in einem Notizbuch verzeichnet, das er Stationen genannt hatte. Das Tor zu Europa in Lampedusa, die Klippen von Cabo da Roca, das »Lob des Horizonts« in Gijón. Dieser Name hatte ihn fasziniert, seit er ihn kannte. Es war eine der nördlichsten Grenzen der iberischen Halbinsel, also von Kontinentaleuropa, eine Grenze des Festlands, obwohl diese Bezeichnung eigentlich dumm ist, dachte er, denn auch Inseln sind Festland. Er war dort angekommen, nachdem er einen grünen Hügel hinaufgestiegen war, den Cerro de Santa Catalina, auf dessen Gipfel sich dieses Monument aus Stahlbeton abzeichnete, ein offener Ring wie ein Magnet oder ein Hufeisen, gestützt von zwei enormen Pfeilern am Rand eines Kaps.

      Emiliano, sein Buchhändlerfreund, behauptete, der Horizont gehöre inzwischen einer vergangenen Menschheitsepoche an, als er noch eine magnetische Verlockung oder ein Glücksversprechen war. Als man auf Sicht und mit den Sternen segelte. Doch für den Brief, den zu schreiben er nie den Mut gehabt hatte, konnte es kein geeigneteres Heft geben. Er wollte einschlafen und träumen, dass er zu den Azoren oder zum Ural oder nach Island aufbrach, doch erst schob er das Mobiltelefon auf dem Nachttisch näher zu sich. Nachdem er den Versuch gemacht hatte, einige Wochen lang ohne auszukommen, hatte er vor kurzem wieder eines gekauft, ein einfaches Modell mit wenigen Funktionen. Er hoffte, es würde in dieser Nacht nicht läuten, denn danach hätte er das Geräusch für alle Zeiten gehasst und hätte das Telefon loswerden müssen, diesmal für immer, den Koffer packen, alles zurücklassen und wirklich zum Nordkap oder an irgendeinen anderen abgelegenen Ort auf dem Planeten Erde aufbrechen.

      Wieder verfluchte er sich, weil er sich nicht an den Wortlaut des kleinsten Gebets erinnerte. Er stieß das Laken mit den Füßen von sich, die Hitze in dieser Dachwohnung war unerträglich. Das Dach schien Wärme auszustrahlen, und kein Lufthauch drang durch die Fenster. Er stand auf, von einer Unruhe gepackt, gegen die es kein Mittel gab, und beschloss, nach draußen zu gehen.

      V

       Dans le jour blême sont effacés

      Die Bierbar Marconi war voller Touristen. In der einen Ecke eine Gruppe Spanier, die dröhnend lachten, während an den Tischen in der Mitte einige junge Leute, vielleicht Studenten einer amerikanischen Akademie, nicht weniger lautstark diskutierten. Corso setzte sich auf einen der wenigen freien Hocker und versuchte, den vertrauten Klang mancher Worte zu erraten.

      An der Theke zwei Frauen, dem Anschein nach Französinnen, die miteinander flüsterten, ihre Lippen streiften abwechselnd das Ohr der anderen. Um sie herum reckten sich Dutzende geröteter Arme, die sich die Gläser von den zwei Barkeepern bis zum Rand füllen lassen wollten, auch sie Fremde.

      In diesem Babel hatte Corso sich sofort wohlgefühlt. Es lag nur wenige Schritte von der Via Merulana entfernt, im seitlichen Schatten der Basilika, und hier kannte ihn niemand. Er hatte ein Pils vom Fass bestellt und trank es in kleinen Schlucken. Dann hatte er eine Unterhaltung mit einem Mädchen angefangen. Sie waren höchstwahrscheinlich die einzigen Italiener im Lokal. Corso hätte nicht sagen können, wer von ihnen zuerst gesprochen hatte, er erinnerte sich nur noch, dass sie ihn gefragt hatte, ob er der Mann war, der die Leute mit Büchern behandelte. Nicht im Traum hätte er sich vorgestellt, diese Frage hier drinnen zu hören.

      »Woher weißt du das?«

      »Du bist einer, den man bemerkt.«

      Der besondere rosa Farbton ihrer Bluse mit weit geschnittenen Ärmeln färbte ihre Art zu lächeln mit Schüchternheit.

      »Ich bin Elsa.«

      Corso reichte ihr die Hand.

      Bei der zweiten Runde Bier war sie schon in Stimmung für Geständnisse, was ihm sonst nur mit Marta, seiner besten Freundin, hätte passieren können, wenn er die Kraft gehabt hätte, sie anzurufen. Jedes Ereignis dieses Tages schien eingehüllt in eine irreale Aura. Doch Elsa überraschte ihn abermals.

      »Ich habe ein Problem, obwohl du die am wenigsten geeignete Person bist, der ich es anvertrauen könnte.«

      Wieder nahm sie einen tiefen Schluck Bier, in aller Ruhe. Jetzt


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