Ich töte wen ich will. Fabio Stassi

Ich töte wen ich will - Fabio Stassi


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lächelte sie und senkte den Blick auf die hölzerne Theke. Um das Gewicht dessen, was sie eben gesagt hatte, zu mildern, fügte sie hinzu: »Ist es sehr schlimm, Dottore?«

      Corso sah sich gezwungen, sich abzuwenden; dieses plötzliche Bekenntnis ließ für nichts mehr Raum. Während er die Gläser und Flaschen vor sich beobachtete, die Arbeit der Barkeeper, die Warteschlange an der Kasse, die Tür, die ständig auf und zuging, dachte er an all die Wörter, die er in den letzten Jahren in seine Hefte geschrieben hatte, an die Wörter, mit denen Bücher anfingen, an die, mit denen sie endeten, und an all die anderen, die den Anfang der Geschichten der Menschen und die, die ihr Ende bildeten, die ihn aber enttäuscht hatten, Tag für Tag, wie sie vielleicht auch diese Frau enttäuscht hatten, die an einem Sommerabend an derselben Theke einer Bierbar gesessen hatte. Mit welchen übriggebliebenen Wörtern hätte er ihr den Kummer beschreiben können, den er wegen Django empfand? Und das Gefühl der Verstörung und Bedrohung, in das er abgestürzt war, und das ihn dazu gebracht hatte, sich vom Bett loszureißen und ins nächstgelegene Lokal zu laufen? Er dachte an die trockene Kehle, die die Welt jetzt ihretwegen hatte. Er fragte sie, was sie vor kurzem erlebt hatte, aber er fragte nur aus Gewohnheit.

      »Ich habe mich verliebt«, sagte sie, »aber es hat nicht funktioniert. Es war alles ein riesengroßer Irrtum, von Anfang an.«

      Corso überkam wieder die Lust zu rauchen. Vielleicht hätte er Feng einen Brief schreiben sollen, nicht dem Gespenst seines Vaters.

      Elsa setzte ihr Glas ab.

      »Ich möchte eine Pflanze werden, ein Baum, und mit anderen Lebewesen nur natürliche oder räumliche Beziehungen haben. Ich möchte vom Licht geleitet werden, von der Temperatur, nichts weiter brauchen als ein bisschen Wasser, verstehst du? Ich möchte auf den Regen warten, den Schnee fürchten, alle Nahrung aus dem Erdboden schöpfen. Zu einer bestimmten Jahreszeit würde ich gerne blühen und meine Wurzeln immer an derselben Stelle schlagen, um dann langsam zu welken, zu vertrocknen. Aber alles stumm. Wäre es so nicht viel einfacher?«

      Corso nahm den nächsten Schluck. Gegen keine einzige dieser Feststellungen hätte er etwas einwenden können. Wir leben im Trugschluss, das stimmt, und im Trugschluss gedeihen wir. Nur manchmal, in Extremsituationen oder dank eines unvorhergesehenen Ereignisses können wir einen davon auflösen, doch nie vollständig. Das Leben ist ein einziges Missverständnis.

      »Pardon, ich wollte meine unbedeutenden Gefühlsdesaster nicht auch noch zu all denen hinzufügen, die du dir ohnehin anhören musst. Ich weiß wirklich nicht, wie du so einen Beruf haben kannst.«

      »Ich musste. Hätte man mich unterrichten lassen, säße ich jetzt in einer Pension irgendwo in der Provinz, tränke Grappa und würde den Dreißigjährigen Krieg noch einmal durchgehen.«

      Beide lachten, dann sprach Corso weiter.

      »Die Wahrheit ist, dass wir den Worten, die wir verwenden, niemals dieselbe Bedeutung geben, darum sollten wir auch nicht auf das hören, was die Menschen sagen, sondern auf die Musik, die sie machen, wenn sie sprechen.« Corso sah sie an.

      »Kennst du dieses Video, in dem Marina Abramović nach langer Zeit ihre erste Liebe wiedersieht? Sie machte im MoMA in New York eine ihrer aufreibenden Performances, sie saß an einem Tisch, und jeder konnte sich eine Minute lang ihr gegenüber hinsetzen, vorausgesetzt, er schwieg. Kein Wort. Nur Blicke, sonst nichts. Das ging mehrere Tage lang so, bis sich ein Mann mit weißem Bart, länglichem Gesicht und in die Stirn geschobener Brille aus dem Publikum löste. Er trug Turnschuhe und eine dunkle Jacke. Marina trug ein rotes Kleid. Sie hielt die Augen noch geschlossen, um sich zu konzentrieren, das machte sie bei jedem Wechsel ihres Gegenübers. Als sie die Augen wieder öffnete, strahlte ihr Gesicht vor Staunen. Seit dreißig Jahren hatten sie sich nicht gesehen. Ulay bewegte den Kopf, als wollte er sagen: Siehst du, hier sind wir, es ist okay, hier sitzen wir jetzt. Er zuckte mit den Schultern, um seine Rührung zu beherrschen. Marina aber öffnete den Mund, Ulay tat einen langen Atemzug, schloss die Lider. Marina weinte, reglos. Sie hatten sich so viel zu sagen und hatten kein Wort dafür. Ulay drehte noch immer den Kopf hin und her, dann streckte Marina die Arme auf dem Tisch aus, Ulay lächelte, als wäre er endlich frei von jedem Schmerz, von Schuld und vom Vergeben, vom Unverständnis, von den Provokationen und sogar vom Spiel der Täuschung und der Wahrheit. Alles war aufrichtig und trügerisch zugleich. Er drückte ihre Hände, und die Menschen, die zuschauten, konnten nicht anders, als begeistert zu applaudieren und diesen unwiederholbaren Gleichklang zu zerstören, bis Ulay sich erhob und den Platz dem nächsten schweigenden Gesprächspartner überließ. Nicht immer haben wir Worte, um alles zu sagen, doch die Gefühle existieren auch ohne sie. Darum sollten wir unsere Worte sorgfältig wählen oder auf sie verzichten.«

      Elsa nahm wieder einen Schluck.

      »Wie die Pflanzen«, sagte sie.

      »Ja, wie die Pflanzen. Weißt du, vorhin hast du mich auf ein Buch gebracht, das ich vor kurzem wiedergelesen habe. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die ein Baum werden wollte.«

      »Aha.«

      »Eigentlich geht es nicht nur darum. Es ist auch die Geschichte von der Beziehung zweier Schwestern, von der Mittelmäßigkeit der Menschen, von einer Familie, die in die Brüche geht. Doch im Mittelpunkt steht dieser Skandal. Der Skandal einer Frau, die vegetabil werden will, auf den Zustand einer Pflanze regredieren will. Darum weigert sie sich, Fleisch zu essen.«

      »Was für eine Frau ist sie?«

      »Sie hat einen Mongolenfleck auf dem Rücken.«

      »Was ist das?«

      »Ein hellblaues Muttermal, das viele Kinder im Orient bei der Geburt etwas oberhalb oder neben dem Kreuzbein tragen. Gewöhnlich verschwindet es, wenn sie heranwachsen, nicht so bei ihr. Sie ist nicht die erste Romanfigur, die von einer Lilie auf der Schulter oder einem Buchstaben auf der Brust gezeichnet wird. Doch die wurden mit Feuer in die Haut der Frauen gebrannt. Der Fleck von Yeong-Hye ist ein naturgemachtes Siegel.«

      »Yeong-Hye …«

      »Ja, sie ist Koreanerin.«

      »Und was ist ihre Sünde oder ihre Schande?«

      »Die Verweigerung von Zugehörigkeit. Zum Vater, zum Ehemann, zur Familie und zum Menschengeschlecht. Es handelt sich um einen radikalen Verzicht, Yeong-Hye verweigert nicht nur die Nahrung, sondern auch die Sprache. Sie wird vergewaltigt, gedemütigt, wegen Schizophrenie und nervöser Magersucht in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, doch sie hört nicht auf, ihren Plan zu verfolgen. Auf den letzten Seiten findet die Schwester sie im Kopfstand wie einen Baumstamm, und ihre Haare fallen auf den Boden wie Wurzeln … Ich weiß nicht, ob sie auch nicht mehr an die Worte glaubte, wie du. Auf jeden Fall spricht sie nie selbst. Ihre Stimme hören wir nur auf wenigen Zeilen, als sie uns von ihren schrecklichen Träumen erzählt: Wälder, Messer, die sie schlucken muss, Morde, ein Hund. Alles andere über sie wird von den anderen Figuren erzählt.«

      »Was hat bei ihr nicht funktioniert?«

      »Das wird uns nicht verraten. Im Mittelpunkt ihrer Geschichte steht ein Geheimnis. Es scheint fast, als wäre dieser Roman wie eine umgekehrte Ermittlung konstruiert. Was zählt, ist die Irreführung, nicht die Lösung, man will das Rätsel beschützen, als könnte es nur auf diese Weise respektiert werden, man will vermeiden, dass es missverstanden wird.«

      »Das hört sich nach einem sehr harten Buch an.«

      »Das ist es, hart und verstörend. Es erzählt von vielen Dingen. Da gibt es einen Teil, in dem der Schwager, ein bildender Künstler mit wenig Talent, den unerklärlichen Wunsch verspürt, ihren Körper zu bemalen. Er malt ihr rote Blumen auf die Haut, Knospen, Stängel, Blätter. Er bedeckt sie mit Farben, und das macht sie mit einem Mal glücklich, es geht ihr gut dabei.«

      »Und du glaubst, auch mir täte es gut, dieses Buch zu lesen?«

      »Das weiß ich nicht, aber in wahren, ehrlichen Büchern findet jeder das, was er braucht.«

      »Was hast du darin gefunden?«

      »Einen Satz. Den sagt ihre ältere Schwester, zum Ende hin. Diese Schwester


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