Little Pearl. Madlen Schaffhauser
»Klar. Du weißt, wo die Küche ist.« Während mein Bruder in der Küche verschwindet, bleibe ich im Flur und checke das Haustelefon. Drei verpasste Anrufe werden angezeigt und eine Sprachnachricht auf dem AB. Ich nehme das Telefon mit und gehe zu Evan.
»Hast du Hunger?«
»Kochst du etwas?«
Ich grinse ihn an. »Nein. Du kannst dir ein Brot machen.«
»Was für eine Gastfreundschaft hier wieder herrscht.«
»Nicht wahr?«
»Willst du auch was?«, möchte Evan wissen, während er in den vollen Kühlschrank sieht.
»Machst du mir ein Putensandwich und einen gemischten Salat?«
»Sonst noch was?« Evan schnaubt, dann nimmt er ein paar Sachen aus dem Schrank.
»Du hast gefragt, ob ich etwas will. Selbst schuld.« Ich gehe zum Tisch und starte den Laptop. Die Küche ist gleichzeitig mein Büro. Dann mache ich mich an die Waschmaschine, die am Ende der Küchenzeile steht und räume sie aus. Gleichzeitig höre ich den Anrufbeantworter ab.
»Hier ist Mr. Linkin. Ich möchte ein Zimmer buchen. Könnten Sie mich bitte zurückrufen.«
Werde ich gleich als erstes tun, wenn ich die Wäsche aufgehängt, die E-Mails gecheckt und mich mit meinem Bruder unterhalten habe.
»Hier.« Evan legt ein belegtes Brot und eine Schüssel Mais neben mich auf die Anrichte. »Das muss genügen.«
»Danke.« Ich grinse meinem Bruder zu, der sogleich in sein Essen beißt. »Wollen wir uns auf die Veranda setzen?«
Er nickt, während er kaut und geht zur Hintertür, die auf die Veranda führt.
»Könntest du mir etwas abnehmen?« Ich deute auf mein Essen und auf den vollen Wäschekorb vor meinen Füßen.
»Kann das nicht warten?«
»Bist du ein Stinkepeter.« Ich hebe den Korb, doch Evan nimmt ihn mir sofort ab. »Oh, du machst mir die Wäsche?«, frage ich scherzend.
»Vergiss es. Ich trag sie nur raus. Bring mir mein selbstgemachtes Brot mit.«
Ich nehme das Essen, lege meins auf den Tisch auf der Veranda und gehe zur Wäscheleine, an der schon diverse Bettbezüge hängen. Ich überreiche Evan sein Sandwich.
»Wie lief es mit deinem Kunden?«
»Gut. Es ist eine Sie. Ich habe sie durch den Wald gejagt.« Wieder beißt er von seinem Brot ab.
»Oh«, mache ich. Mit meinem Kopf in Schräglage sehe ich zu Evan. »Du vermischst aber nicht Arbeit mit Vergnügen, oder?«
Er zuckt bloß mit den Achseln und nimmt einen weiteren Biss.
»Du weißt, dass das nicht gut gehen kann?« Ich nehme ein Kissenbezug und hänge es über die Leine.
»So wie bei dir?«, erwidert er mit halbvollen Mund.
»Wie?«
Evan fährt sich über den Dreitagebart, als ich zum ihm rüberblinzle. »Du hast mich schon richtig verstanden.«
Ich schüttle den Kopf. Ich habe noch nie etwas mit meinen Gästen angefangen. Und das werde ich auch nicht.
Meint er möglicherweise Dylan? Niemals. Er weiß nicht, dass ich Dylan beauftragt habe, ein antikes Möbelstück zu restaurieren. Oder? Absolut unmöglich.
Außerdem läuft nichts zwischen Dylan und mir. Und ein Arbeitsverhältnis haben wir auch nicht. Jedenfalls nicht so eins wie Evan mit seinen Kundinnen.
Ich nehme das nächste Stück Wäsche und lege es über eine freie Leine.
»Ich hab dich gesehen.«
»Wo? Wann?«, frage ich so gleichgültig wie möglich und lenke mich mit einem Laken ab.
»Tu nicht so scheinheilig.«
Er ist wütend auf mich. Das bin ich mir gar nicht gewohnt. Klar, als Kinder haben wir uns gezankt und gestritten, und uns mit wüsten Beschimpfungen angeschrien. Doch das ist Jahre her. Was das hier nur eins bedeuten kann: Er weiß, dass ich bei Dylan war.
Als ich mich bücke und nach einem weiteren Wäschestück greife, reißt es mir Evan aus der Hand und wirft es in den Korb zurück.
»Was hattest du bei ihm zu suchen? Ja, ich weiß, du warst bei Sawyer. Ich habe dich heute Morgen in Richtung Moores Grundstück fahren sehen. Erst dachte ich, du würdest zu deinem Gärtner gehen. Aber als ich vorhin durch das Esszimmer gegangen bin, ist mir gleich aufgefallen, dass der alte Kasten fehlt. Hast du wirklich gedacht, ich würde es nicht bemerken?«
Ich versuche an einem dicken Kloß im Hals vorbeizuschlucken. Mir war von Anfang an bewusst, dass ich mit dem Feuer spiele, wenn ich Dylan beauftrage, mein Möbelstück aufzufrischen. Ich habe es ignoriert, obwohl ich wusste, dass mir meine Familie die Hölle heiß macht, sobald sie davon erfährt.
Gott, ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, als ich jetzt in Evans Gesicht sehe. Seine Kiefermuskeln sind angespannt.
»Was ist daran schon schlimm?«, frage ich etwas unsicher. »Dylan macht mir einen Gefallen und er verdient etwas dabei. Fertig.« Ich will nicht, dass Evan meine Mimik sieht und drehe mich weg, auch wenn es zu spät ist.
»Deine Augen glühen, wenn du von ihm sprichst.«
»So ein Quatsch.« Selbst in meinen Ohren klingt meine Stimme falsch.
»Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin.«
»Und du sollst nicht zu viel in etwas hineininterpretieren. Da ist nichts. Gar nichts.«
»Hat er dich angefasst?«
»Nein. Weit davon entfernt.« Ich muss mich beschäftigen. Evan darf nicht sehen, wie sehr ich mir wünsche, Dylan hätte mich berührt, oder etwa geküsst. Sobald ich ein Laken in der Hand habe, nimmt es mir Evan wieder aus der Hand und lässt es in den Korb zurückfallen. Sein halbes Sandwich bettet er obendrauf.
Er legt seine Hände auf meine Schultern. »Du bist meine Schwester. Ich will nur, dass dir nicht so ein Arschloch wie Sawyer dir wehtut.«
»Ich bin erwachsen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Du weißt nicht, wie er zu Frauen ist.«
»Aber du?« Plötzlich werde ich wütend. Ich schlage Evans Hände weg und verschränke meine Arme vor der Brust. »Niemand hat doch wirklich eine Ahnung, wie Dylan tatsächlich ist. Wie willst du ihn kennen, wenn er sich nie blicken lässt? Hast du überhaupt schon mal ein Wort mit ihm gewechselt?«
»Little Pearl ist nicht der einzige Ort, wo man ausgehen kann. Und ich brauche mich nicht mit ihm zu unterhalten, um zu wissen, was für ein mieser Kerl er ist. Er reißt Frauen auf, legt sie flach und wirf sie dann weg.«
Sofort schießt mir das Bild von gestern durch den Kopf. Wie Dylan eine Schwarzhaarigen an seinen Pick-up gedrückt und sie geküsst hat. Ich blinzle mehrmals, will Dylan nicht mit einer anderen zusammen sehen. Sondern wünsche mir mich in seinen Armen.
Ich muss den Kopf in den Nacken legen, damit ich Evan in die Augen sehen kann. »So wie du?«, scherze ich, um die Stimmung aufzulockern und mich von der Erinnerung an das knutschenden Paar abzulenken. Doch das geht völlig nach hinten los.
Evan beobachtet mich mit finsterer Miene. »Steck mich niemals mehr mit Sawyer in einen Topf. Hast du gehört?«
»Sorry.« Ich hebe die Hände in die Höhe. »Ich werde es mir merken. Aber überlass meine Entscheidungen mir.«
Habe ich soeben vor meinem Bruder zugegeben, dass ich mir mehr von Dylan erhoffe, als nur den restaurierten Schrank? Scheiße, das kommt nicht gut.
»Kann ich nicht.« Evan nimmt sein Sandwich wieder in die Hand, mit dem er jetzt auf mich zeigt. »Sawyer ist ein Mistkerl. Er benutzt Frauen.«