Damian - Vertrauen. Madlen Schaffhauser
„Er kam zur Beerdigung und blieb für ein paar Tage bei mir. Während er versucht hat, mich wieder aufzubauen, habe ich nur weiter dicht gemacht und mich jeden Tag besoffen und ihn dann irgendwann vertrieben, obwohl er nur mein Bestes wollte.
Als mir die Sauferei nicht mehr genug Befriedigung gab, fing ich an zu prügeln. Ich fand einen Club, der illegale Kämpfe ausführte. Die ersten paar Mal bekam ich ordentlich was auf den Kopf. Aber mit der Zeit wurde ich richtig gut und es hat mir gefallen, wie die anderen unter meinen Schlägen zusammenbrachen.“ Er lacht verbittert auf. „Ich glaubte wirklich, dass ich auf dem richtigen Weg sei. Ich dachte, ich könnte mich so an dem Tod meiner Frau und Tochter rächen und habe so lange weitergemacht, bis Linus plötzlich wieder vor meiner Tür stand. Er hat mich praktisch aus meinem Dämmerzustand gerissen und mich nach London gezerrt. Es hätte mir nichts Besseres passieren können, als Rose und ihrem Mann zu begegnen. Während ich in den ersten Monaten bei Linus wohnte, kamen sie fast täglich vorbei. Ich kann dir nicht sagen, was sie gemacht oder gesagt haben, das mich wieder auf die richtige Bahn brachte, aber sie schafften es und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein. Sie waren die beste Hilfe, die ich mir überhaupt wünschen konnte, um mit dem Tod von Luna und Helen umgehen zu können.“
Meine Stimme zittert leicht, als ich ihm eine weitere Frage stelle. „Warum ist der andere auf eure Strassenseite geraten?“
Er holt mindestens ein Dutzend Mal tief Luft, bevor er mir antwortet. Ich kann ihm ansehen, dass ihn meine Frage aufwühlt, trotzdem beantwortet er sie ziemlich ruhig. Seine Hand noch immer in meiner. „Er war ein verwirrter, alter Mann.“
„Hat er den Unfall überlebt?“
„Ja.“
„Und wie geht es dir damit?“
„Anfangs wollte ich ihn umbringen. Ich wollte, dass er in der Hölle schmort. Dass er niemals mehr gehen kann und dass er seit dem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, konnte mich damals nicht beruhigen. Schliesslich hat er mir das genommen, was ich am meisten liebte. Einfach so.“ Er hält kurz inne und ein schwaches Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. „Doch heute haben wir so was wie eine Art freundschaftlicher Verbindung.
Verblüfft reisse ich die Augen auf und sehe ihn von der Seite an. „Freundschaftliche Verbindung?“
Er zuckt mit den Schultern. „Erstaunlich, nicht wahr?“
„Allerdings. Verrätst du mir, wie es dazu kam?“
„Er hat mich oft angerufen und mich um Verzeihung gebeten. Aber ich war nicht bereit zu verzeihen. Nie. Es kamen Briefe, Karten, doch ich habe auf kein einziges Schreiben geantwortet. Am Telefon habe ich ihn angeschrien und ihn Mörder genannt.“
Oh Gott. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich den wütenden, verletzten Damian vor meinem inneren Auge sehe, der den anderen Mann aufs übelste beschuldigte und beleidigte. Auch wenn ich Damian verstehen kann, habe ich doch plötzlich Mitleid mit dem Unfallverursacher.
„Warum...“
„Warum es anders kam?“ spricht er die Frage für mich aus. „Eines Abends stand er vor meiner Tür. Ich hatte das Gefühl von Gott verarscht zu werden und bin auf ihn losgegangen. Auf einen alten, wehrlosen Mann in einem Rollstuhl. Gerade als ich meine Faust hob, um ihm in sein Gesicht zu schlagen, zerbrach irgendwas in mir und zwang mich auf die Knie. Minutenlang blieben wir schweigend voreinander. Er sitzend, ich kniend.
Ich habe gar nicht bemerkt, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Erst als er die Hand hob und mir zitternd über den Kopf strich. Ich wollte ihn abwimmeln, hatte aber keine Kraft mich zu wehren. Als ich meinen Blick auf sein Gesicht richtete und in seine tränenden Augen sah, erkannte ich, dass er alles tun würde, um den Unfall ungeschehen zu machen. Dass er sich selbst nicht verzeihen konnte, was damals geschah.
Zu meiner eigenen Verblüffung stand ich auf, trat hinter seinen fahrenden Stuhl und schob ihn in mein Haus. Wir haben stundenlang geredet, geweint und wieder geredet. An jenem Tag konnte ich ihm irgendwie vergeben und haben es uns zur Gewohnheit gemacht, uns einmal im Jahr an ihren Gräbern zu treffen.“
Mir bleiben die Worte weg. Ein weiteres Mal beweist er mir, was für ein herzensguter und selbstloser Mensch er ist und meine Liebe zu ihm wächst immer mehr.
Noch vor einem Tag glaubte ich, dass es aus wäre zwischen uns, dass wir keine Chance mehr hätten, doch in nur wenigen Stunden hat sich alles in die andere Richtung gedreht. Er hat sich mir geöffnet und beantwortet mir alles, was ich von ihm wissen möchte.
Im Moment könnte ich nicht glücklicher sein.
Es ist bereits dunkel, als wir in Knightsbridge ankommen. Es war ein Tag voller Enthüllungen, die ich wahrscheinlich noch während den nächsten Tagen zu verdauen habe. Aber ich möchte ihn um nichts in der Welt ungeschehen machen. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich die vergangenen Tage nochmals durchleiden müsste. Es brauchte unseren Streit, unsere Trennung, damit Damian endlich über seinen Schatten springen und mir alles erzählen konnte, was in seinem Leben passiert ist.
Gerade als ich mit einem Handtuch über meine nassen Haare fahre und so in das Schlafzimmer komme, klingelt mein Handy. Ich tippe auf Dad oder Sandy, obwohl es auch Mira oder Rose sein könnten.
„Hallo.“
„Jessica, meine Kleine.“ ertönt die Stimme meines Vaters.
„Was ist los?“ frage ich ihn sofort, weil er ziemlich besorgt klingt.
„Geht es dir gut?“
„Ja, warum sollte es mir nicht gut gehen?“
„Sandy hat mich heute angerufen und sich Sorgen um dich gemacht. Schliesslich hast du dich in den letzten beiden Tagen nicht gemeldet. Weder bei ihr, noch bei mir. Wir haben versucht dich zu erreichen, aber wir kamen immer auf den Anrufbeantworter. Sie meinte, dass du bei eurem letzten Telefonat etwas durcheinander gewesen wärst. Also, was ist los?“
„Alles ist gut.“ Und nachdem Damian und ich uns ausgesprochen haben, ist wirklich alles gut.
„Sicher?“ hakt mein Dad nach.
„Ja.“ Ich erzähle ihm von dem Streit zwischen Damian und mir und von dem bevorstehenden Umzug, lasse aber die Details aus. Er braucht diese nicht zu wissen, ausser Damian ist irgendwann bereit sie meinem Vater selbst zu erzählen. Allerdings müssten sie sich dafür erst einmal kennenlernen.
„Du ziehst also bei ihm ein?“
„Ja.“ antworte ich etwas verlegen. „Du bist nicht gerade begeistert davon. Ich kann es in deiner Stimme hören.“
„Ich bin vielleicht ein wenig überrascht, mehr nicht.“
„Mache ich möglicherweise einen Fehler?“ möchte ich von meinem Vater wissen. Obwohl ich vor ein paar Stunden überhaupt keine Zweifel hatte, überkommt mich jetzt doch eine gewisse Skepsis.
„Du liebst ihn und anscheinend bedeutest du ihm ebenfalls sehr viel. Also warum so viele Gedanken? Lass dem ganzen einfach seinen Lauf und geniesse es. Obwohl...“
„Obwohl was?“ hacke ich nach, als er nicht weiterspricht.
„Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen. Schliesslich möchte ich wissen, mit wem meine Tochter ihr Leben verbringt.“
Genau das ging mir vor wenigen Minuten ebenfalls durch den Kopf. Aber das Damian so seine Probleme damit hat, brauche ich meinem Dad nicht unter die Nase zu binden. „Es wird sich sicher bald mal geben, dass wir in die Schweiz kommen oder du nach London.“
„Ach Kleine.“ seufzt er in den Hörer.
Klar weiss ich, dass mein Vater niemals in ein Flugzeug steigen wird. Trotzdem wünsche ich mir, dass er eines Tages sein Auto nimmt und nach England fährt, um zu sehen, wie und wo ich lebe.
„Ich wollte dich nur aufziehen.“ versuche ich die Atmosphäre, die plötzlich nach unten zu sinken droht, zu lockern.
„Deine Gemeinheiten