Damian - Vertrauen. Madlen Schaffhauser
Meine Tochter.“ seufzt er und schliesst für einen kurzen Moment die Augen. „Ich hatte Angst ich würde sie zerdrücken, als ich sie in meine Arme schloss, so klein war sie. Sie...“
„Warum erzählst du mir das alles?“ frage ich mit bebender Stimme. Das was er hier beschreibt, hätte ich vor wenigen Monaten selbst erleben sollen, aber es wurde mir nicht vergönnt. Ich kann mich nur schwer beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen.
„Jess.“ Damian legt einen Finger unter mein Kinn und bringt mich dazu ihn anzusehen. Auch er ist dem Weinen nahe. „Ich möchte dir damit nicht wehtun. Ich möchte, dass du mich verstehst. Vielleicht kannst du es, wenn ich dir alles erzählt habe.“ Stumm nicke ich, denn plötzlich ist mir klar, dass noch etwas Entsetzliches kommen wird und Damian spricht weiter. „Helen und ich haben unser kleines Kind von Anfang an vergöttert. Sie war unser kleiner Schatz. Unser Ein und Alles. Ich habe versucht all die Träume meiner zwei Mädchen zu erfüllen, so gut es eben ging. Es war nicht immer einfach, die Arbeit und das Privatleben unter einen Hut zu bringen, trotzdem waren wir eine glückliche Familie.
Ich verbrachte viel Zeit in meiner Firma, die ich nur kurz vor Helens Schwangerschaft begann aufzubauen. Allerdings nahm ich mir öfter mehrere Wochen am Stück Ferien, damit ich mit meiner Frau und Kind verreisen konnte. Uns zog es in der ganzen Welt umher. Wir flogen nach Amerika, in die Dominikanische Republik, Dubai, wanderten in den Schweizer Bergen oder fuhren mit unserem Auto durch Europa.“ Sein Adamsapfel hüpft in die Höhe, als er schwer schluckt und nach Worten sucht. „Niemals hätte ich gedacht, dass ein solcher Trip mein Leben zur Hölle werden lässt. Ich sass...“ Damian versagt die Stimme. Er lässt seinen Kopf hängen und knetet unkontrolliert meine Finger.
Ich warte darauf, bis er sich wieder gefangen hat, aber er redet nicht weiter. „Erzähl es mir.“ fordere ich ihn schliesslich leise auf.
„Es ist auch nach all den Jahren noch wie ein Stich ins Herz, wenn ich nur daran denke.“
„An was?“
„Wie der Wagen in einen anderen donnert und wir zur Seite geschleudert werden.“
Ich halte vor Schreck den Atem an. Obwohl er mir noch nicht erzählt hat, was genau passiert ist, ahne ich schon, was kommen wird. Ich möchte es nicht wirklich erfahren und trotzdem muss ich es von ihm hören.
„Als wir auf der Heimreise von Frankreich waren, kam plötzlich ein Pick-Up auf unserer Fahrbahn entgegen. Ich habe versucht dem Falschfahrer auszuweichen, aber ich habe es nicht geschafft. Er fuhr uns mit hoher Geschwindigkeit in die Seite, wobei es uns wild herumwirbelte. Ich konnte das Steuer noch so fest gegenlenken, nur machte das Auto, was es wollte. Dann überschlug es uns und wir flogen über die Mittelleitplanke, bevor wir auf dem Dach liegen blieben. Nachdem der erste Schock nachliess, wollte ich mich von meiner Gurte lösen, um nach Helen und Luna zu sehen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Als ich meinen Kopf drehte, sah ich, wie meine Frau zusammengesunken auf dem Beifahrersitz sass. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Ihre Augen starrten geradeaus. Da wusste ich, dass ich sie verloren hatte. Von meiner Tochter war kein einziges Geräusch zu hören. Ich betete zu Gott und redete mir ein, dass sie einfach tief am schlafen war, allerdings sollte ich wenig später erfahren, dass auch sie es nicht überlebt hatte.
Wie und wann die Sanitäter und Feuerwehr zu uns kamen, kann ich nur durch einen Nebelschleier sehen. Aber die Worte, die ein Retter zu einem anderen sagte, höre ich noch ganz deutlich, als wäre es eben erst passiert. Was für eine Schande für dieses junge Leben. Genau dieser Satz versetzte mich damals in einen Schockzustand, der mich fast um den Verstand brachte. Die Sanitäter mussten mir eine Beruhigungsspritze geben, damit ich nicht zusammenbrach. Mir fielen gleich darauf die Augen zu und als ich sie wieder öffnete, lag ich im Krankenhaus.
Zuerst begriff ich nicht, wo ich war und wieso, aber als die Erinnerungen dann zurückkamen, schlugen sie auf mich ein, wie tausend Fäuste. Ich bekam kaum Luft und fing an zu hyperventilieren, was meine Apparate, an denen ich angeschlossen war, zum piepsen brachten. Keine zehn Sekunden später waren Krankenschwestern und der diensthabende Arzt um mich versammelt, um mich zu beruhigen. Sie setzten mich unter Narkose und ich fiel in einen langen traumlosen Schlaf. Das wiederholte sich so oft, bis ich mich wieder im Griff hatte.
Meine körperlichen Verletzungen waren lächerlich, hinsichtlich meiner psychischen. Ich hatte lediglich eine Gehirnerschütterung, einen gebrochenen Arm und ein paar Prellungen, während meine Frau und mein Kind, in dem Auto, das ich fuhr, den Tod fanden. Es hätte mich erwischen sollen, nicht meine kleine, süsse Luna. Nicht Helen. Sie waren zwei so wunderbare Menschen.
Jeden Tag frage ich mich, warum Gott mir die beiden wichtigsten Personen in meinem Leben nehmen musste und mich zurückliess. Warum konnte ich nicht gehen? Will er mich etwa bestrafen?“ Er schüttelt verständnislos den Kopf. „Ich werde wohl nie eine Antwort darauf bekommen.“
Ich muss ein paar Mal leer schlucken. Seine Geschichte setzt mir unheimlich zu. Niemals hätte ich mit so einer Enthüllung gerechnet, aber jetzt kann ich vieles an seinem Verhalten verstehen. Vieles was Rose, Pietro oder Linus gesagt haben, ergibt endlich einen Sinn. Damian hat eine dicke Mauer um sich herum aufgebaut, um sich zu schützen. So wie ich, bevor ich ihn traf.
Es schockiert mich, wenn ich an seine Frage denke: Warum konnte ich nicht gehen? Denn ich wüsste nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich ihn nicht kennengelernt hätte. Er ist die Person, die mich aus meinem Kokon befreit hat. Er ist die Person, die mich dazu brachte, wieder an eine glückliche Zukunft zu glauben. Er ist die Person, die mich wieder lieben gelernt hat.
Ich sehe ihn mit tränennassen Augen an. „Warum sollte er dich bestrafen wollen?“
„Weil ich Schuld bin, dass Helen und Luna sterben mussten.“ presst er angewidert zwischen den Zähnen hervor.
Ich nehme seine Hände in meine und fahre beruhigend mit den Daumen über seine Handrücken. „Wieso denkst du so etwas? Du hast mir soeben erzählt, dass ein Auto auf eurer Spur entgegenkam. Du hast alles versucht, was in deiner Macht stand.“
„Das ist nicht genug!“ Er kämpft mit seiner Beherrschung und möchte sich von mir lösen, doch ich lasse ihn nicht frei.
„Das Schicksal ist nicht immer auf unserer Seite. Das habe ich an meinem eigenen Leib erlebt. Mehr als genug. Aber du warst der, der mich lernte nicht aufzugeben.“
„Das ist nicht dasselbe.“
„Warum?“ frage ich ihn.
„Weil ich diesen Trip nach Frankreich unbedingt machen wollte, während Helen lieber nach Australien geflogen wäre. Wenn ich nicht so darauf bestanden hätte an die Cote d'Azur zu reisen, wäre dieser verdammte Unfall nicht passiert!“ Er reisst sich von mir los und steht auf. Unruhig geht er im Raum auf und ab. Die Hände in die Taschen gesteckt.
„Hör auf damit.“ Ich erhebe mich ebenfalls und gehe langsam auf ihn zu. Dabei strecke ich meine Hände nach ihm aus. Ich möchte ihn halten und ihm Kraft geben. Ich möchte ihm helfen diese selbstzerstörerischen Gedanken zu vertreiben, die ihn wie eine eiserne Kette zerdrücken. „Mach dich nicht für etwas verantwortlich, wofür du nichts kannst.“
„Es ist meine Schuld.“ wiederholt er in dem Augenblick, in dem ich meine Arme um ihn lege und ihn fest an mich ziehe.
„Nein.“ flüstere ich sanft an sein Ohr. „Du hast alles versucht, um deine Familie zu beschützen. Halt dich an diesem Gedanken fest.“
„Das ist unheimlich schwer.“
„Lass mich für dich da sein. Lass mich in dein Leben.“
4.
Verführerischer Kaffeeduft steigt mir in die Nase. Ich brauche einen kleinen Augenblick, um mich zu ordnen. Dann fällt mir alles wieder ein. Mein Herz beginnt schnell und dynamisch gegen meine Brust zu hämmern. Aber nicht aus Angst oder Verlangen. Nein, es schlägt derart lebendig, weil er sich mir endlich anvertraut hat. Zwar weiss ich noch immer nicht, warum