Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt


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sich die Vorgänge von Allendorf in umgekehrter Richtung. Wir wurden abgeladen. Ein Teil der Lastwagen hielt auf dem Schulhof. Wir standen auf dem Platz herum und warteten. Wohin würden die Familien kommen? Da trat einer er Dorfbewohner vor und sagte: „Guten Tag, liebe Landsleute. Ich heiße Sie herzlich willkommen in der neuen Heimat. Mein Name ist Karl Siebott. Ich bin Sozialdemokrat.“ Viele haben mir diese Erinnerung bereits abgesprochen, aber es ist meine Erinnerung, auch wenn ich sie damals natürlich noch nicht verstanden habe. Sie entsprach auch nicht dem, was uns in dem vor Kurzem noch von Nazis dominierten Bauerndorf erwartete. „Herzlich willkommen“ waren wir durchaus nicht.

      Die Ankömmlinge wurden zunächst entlaust und bekamen etwas zu essen. Die erste Nacht verbrachten sie entweder in der Schule oder im Gemeindesaal. Wir waren im Gemeindesaal untergebracht. Unsere Tante Resi, damals etwa 19 Jahre alt, erzählte mir, wie es am anderen Morgen weiterging. Wir wurden auf die einheimischen Familien aufgeteilt. Die Listen der Aufzunehmenden enthielten jeweils die Anzahl der möglichen Personen. Also z. B.: Familie Schäfer, 4 Personen, Familie Röse, 3 Personen etc. Entsprechend meldeten sich von den vertriebenen Familien die mit der möglichen Personenzahl. Unser Großvater schwieg. Als seine Frau und seine Töchter drängten, sich doch endlich zu melden, habe er geantwortet: „Seid still!“ („Säds staad!“). Dadurch sei es gekommen, dass seine Familie ins letzte Haus des Dorfes Richtung Laisa gekommen sei, zu „Overferschters“, so der Hausname der aufnehmenden „Oberförsters“. Mit einem Oberförster hatten die aber nichts zu tun. Es war der Hausname, und der wurde im Dorf verwendet, auch wenn die Familie Schäfer oder Schneider oder Müller hieß. Wir wurden von unseren Großeltern getrennt.

      Unsere Mutter kam mit uns beiden Kindern zu einer Familie Wirth, den „Hanneses“, am Ausgang der Straße nach Battenberg, also ziemlich weit entfernt von den Großeltern. Das bedeutete, dass der Besuch dieser Großeltern für meinen Bruder und mich, fünf und 4 1/4 Jahre alt, immer eine mit Angst besetzte lange Reise war. Mehr als alles andere fürchteten wir den bellenden Hofhund dort, obwohl er angebunden war.

      Unser Zimmer lag im ersten Stock. Zwei Fenster des Zimmers gingen zur Straße hin und eines zum Hof. Im Zimmer gab es ein Bett, einen Ofen, einen Tisch und zwei Stühle, vermutlich war auch ein Schrank vorhanden. Der Sohn der Familie, Otto, hatte ein Holzbein. An eine Hausfrau habe ich überhaupt keine Erinnerung. Vielleicht war sie schon gestorben. Eine etwas zurückgebliebene rundliche Tochter, Trinchen, von etwa 25 bis 30 Jahren, besorgte den Haushalt der Familie Wirth. Das erste Erlebnis in dieser Wohnung, an das ich mich erinnere, war das Erscheinen des „Nigrinmannes“. Ich stand am offenen Fenster im ersten Stock und sah auf die Straße hinaus. Plötzlich tauchte unmittelbar vor mir ein schwarzer Mann mit Zylinder auf und sagte: „In Berlin und um Berlin putzt man nur mit Nigerin.“ Er gab mir ein Döschen mit Schuhwichse und ging weiter. Sehr lange Beine hatte er, worüber ich mich sehr wunderte. Später verstand ich dann, dass er auf Stelzen gegangen war und eine Hose mit verlängerten Beinen trug.

      Im Frühjahr 1947 tauchte ein hagerer Mann mit Fahrrad unten im Hof auf. Er trug eine Schildmütze auf dem Kopf. Meine Mutter sagte: „Deijs is einge Fode!“ („Das ist euer Vater!“) An mehr erinnere ich mich zunächst nicht. Er verschwand auch bald wieder. Im Herbst 1947 ist er wiedergekommen. Er blieb dann bei uns. Mitgebracht hatte er eine mit Leder bezogene Reitgerte, das „Staverl“. Es wurde sein bevorzugter Erziehungsgegenstand, wie wir Kinder später schmerzlich erfahren sollten. Der Vater und der Bruder warfen unserem Vater vor, er solle das zurückgebliebene „Trienchen“ geschwängert haben, was er vehement leugnete. Sie brachte ein totes Kind zur Welt. Das änderte nichts an den Spannungen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Wirtsleuten. Auf Dauer konnten wir in solchen Verhältnissen nicht wohnen.

      Ein weiteres Kind kam zur Welt: Maria, unsere Schwester. Im Mai 1948 lag unsere Mutter im Bett. Eines Abends mussten wir zu den Großeltern, um dort zu schlafen. Am anderen Morgen, es war der 30. August, sagten uns meine Tanten, die noch bei ihren Eltern lebten, wir hätten ein Schwesterchen bekommen Wir sollten nach Hause gehen und es uns ansehen. Mein Bruder und ich hatten ziemlich Angst davor. Wir drückten uns bei einem Schuppen im Feld herum und trauten uns nicht nach Hause. Mein Vater muss uns dort gefunden und heimgebracht haben. Als wir in das Zimmer kamen, saß unsere Mutter im Bett. Neben ihr in dicke Polster versenkt lag ein schönes kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und dunklen Augen und sah uns neugierig an. Es wurde später auf den Namen Maria getauft. Wir hätten uns nicht fürchten müssen, es war gar nicht so schlimm gewesen. Künftig waren wir Kinder also zu dritt. Die kleine Maria war sieben bzw. sechs Jahre jünger als mein Bruder und ich. Zunächst freuten wir uns über diesen unerwarteten Zuwachs. Wir gewannen unsere Schwester lieb und verwöhnten sie, so gut wir konnten Sie sollte uns später manches Mal beschwerlich werden, wenn wir auf sie aufpassen und unsere freie Zeit dafür aufbringen mussten.

      In diesem Alter begegnete ich erstmals dem Sterben. Im Hof des Nachbarhauses wurde ein Kalb geschlachtet. Es war mit einem Bolzenschlag ins Gehirn betäubt worden und wurde danach auf einen massiven Holztisch gelegt. Der Schlachterschnitt ihm die Halsschlagader auf, aus der das Blut in Stößen herauskam. Das Tier lebte also noch. Ich stand an seinem Kopfende und sah ihm in die Augen. Heute noch sehe ich den zutiefst leidenden, fragenden Ausdruck in ihnen. Sie erloschen zusehends. Voller Mitleid mit dem armen Tier, sah ich dem weiteren Vorgang zu. Würden wir auch so geschlachtet werden? Nachdem die Haut abgezogen war, öffnete der Schlachter das Kalb und entfernte die Eingeweide. Als er die Brust öffnete und das Herz und die Lunge herausnahm, quoll ein hellroter Blutschaum daraus hervor. Ich empfand das als sehr langsam. Es geschah quasi in Zeitlupe, bis sich schließlich ein regelrechter Schaumberg gebildet hatte. Damals nahm ich an, dass das Tier immer noch lebte und sah dem Anwachsen des Schaumberges gebannt zu. Ich sehe diesen Vorgang noch heute sehr deutlich. Das Zusehen und Helfen beim Schlachten von Tieren sollten im Laufe meiner weiteren Kindheit für mich zur Routine werden. Es verlor allmählich das Beklemmende und Bedrohliche.

      Eine sehr lebhafte Erinnerung an die Wohnung bei „Hanneses“ ist folgende: Unser Vater, der, wie gesagt, im Herbst 1947 zu seiner Familie zurückkam, hatte auf dem Hof Kaninchenställe gebaut und mein Bruder Lorenz, der „Leinzi“, und ich mussten Futter heranschaffen und die Tiere füttern, dreimal am Tag. Das Futter zu besorgen, war nicht einfach. Auf die Felder der Bauern durften wir nicht, klar. Es blieben also nur die Wegränder. Die waren aber von einigen Kleinbauern gepachtet, was wir zunächst nicht wussten. Entdeckte man uns dabei, wie wir Gras rupften und in unsere Säcke steckten, wurden wir verjagt. Wir waren daher sehr vorsichtig und vermieden es, uns noch einmal erwischen zu lassen. Aber das konnte nicht ausbleiben. Wir mussten wohl oder übel unser Hasenfutter von diesen Weg- und Straßenrändern holen. Als wir eines Tages im Sommer wieder fleißig Gras rupften, verspürte ich über beide nackte Oberschenkel einen brennenden Schmerz. Ich fuhr auf und sah den alten „Käsaasch“, einen Kleinbauern mit vielen Kindern, mit der Peitsche in der Hand drohend vor mir stehen. Er beschimpfte uns als „Lausejungen“, nahm uns die Säcke ab und schüttete unser mühsam gerupftes Gras aus. Wir sollten es nicht wagen, noch einmal etwas von seinem Gras zu stehlen. Wir waren sechs und sieben Jahre alt und schworen uns Rache.

      In den „besten Zeiten“ hatten mein Bruder und ich 76 Kaninchen zu versorgen. Entsprechend oft kam auch Kaninchenfleisch auf den Tisch. An vielen Wochenenden im Jahr gab es entweder Hasenbraten, die Kaninchen hießen bei uns Hasen, „Hosn“, oder Hasenpaprikasch, das waren Hasenteile in Paprikarahmsoße. Dazu gab es Nockerln oder Nudeln mit Salat oder eine Beilage, „Zue­speis“, aus gekochtem Gemüse. Auch die Suppe wurde in dieser Zeit sehr häufig mit Hasenfleisch hergestellt. Sie schmeckte immer etwas süßlich. Für uns Kinder war der Kopf interessant, der mitgekocht wurde, wobei die Nase allerdings vorher abgehackt wurde. Der Knochen des Kopfes war durch das Kochen sehr mürbe geworden, sodass wir ihn mit den Zähnen aufbeißen konnten. Das taten wir auch, bissen den Knochen dort ab, wo das Gehirn des Tieres saß, und holten es uns als eine Delikatesse heraus. Auch die Zunge war begehrt. Das mag heute ein wenig barbarisch klingen, aber es war so. Es war für uns Kinder selbstverständlich, dass die Hasen geschlachtet werden mussten. Zu diesem Zweck


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