Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt
musste in Konkurrenz zu seinem jüngeren Bruder geschehen sein. Dieser wurde 1920 geboren. Über sein Leben als Kind und als Jugendlicher hat unser Vater uns kaum etwas erzählt. Wir haben ihn leider auch nicht gefragt. Zu fremd war uns dieser Mann, den wir erst mit sechs bzw. sieben Jahren kennenlernten. Da er uns ausführlich über seinen Fress-Opa berichtet hat, war seine Bindung an diesen Mann wohl sehr ausgeprägt. Emotional am stärksten war er an seine Mutter gebunden, und sie auch an ihn. Das führte zu ständigen Konflikten in unserer Familie, weil er bei Streitigkeiten stets zu seiner Mutter hielt. Dadurch war unsere Mutter bei entstehenden Differenzen mit dieser Oma automatisch ins Unrecht gerückt. Mit sechs Jahren kam er, wie die anderen Kinder auch, in die Schule, die er mit 12 Jahren wieder verließ. Er war inzwischen ein kräftiger Junge geworden, der in der kleinen Landwirtschaft seiner Eltern mithelfen musste. Mit 14 ging er in den „Dienst“ zu einem größeren Bauern. Stolz erzählte er mir einmal, dass er schon in diesem Alter bei der Ernte als „erster Schnitter“ arbeitete. (Ob das zutrifft, kann man bezweifeln, obwohl er ein kräftiger Bursche war. Die älteren Schnitter hatten sicher eine längere Ausdauer.) Der erste Schnitter mähte vorneweg und gab das Tempo vor. Je nach Breite des Feldes folgten noch ein paar andere, sodass in einem Durchgang drei bis sechs Schnittbreiten Getreide abgemäht wurden. Das waren ungefähr drei bis sechs Meter. Später arbeitete er dann als Fuhrknecht bei einem Weinhändler. Diese Arbeit war noch schwerer als die in der Landwirtschaft, weil die schweren Weinfässer aufgeladen, transportiert und wieder abgeladen werden mussten. Bei einem Fass von 100 Litern Inhalt waren das etwa 120 Kilo Gewicht. Die größeren Fässer waren entsprechend schwerer. Die Weinlieferungen dieses Händlers reichten bis nach Raab (Györ). Es ist davon auszugehen, dass er schon als Jugendlicher bis dorthin gekommen ist. Györ liegt über 100 km nordwestlich von Perbál.
Levente und Soldat
Wie alle Jugendlichen in Ungarn musste unser Vater in die 1921 gegründete Jugendorganisation „Levnte“ eintreten. In ihr erhielten die Jugendlichen ab 16 Jahren eine vormilitärische Ausbildung. Mit 17 1/2 Jahren wurde er Rekrut. Am 1. Februar 1939 wurde er zur ungarischen Armee eingezogen. Über Kampfeinsätze hat er uns nicht viel erzählt. Ich erinnere mich nur an Folgendes: Unter schwerem Artilleriebeschuss der Russen musste seine Einheit einen Bahndamm erstürmen. Er habe so große Angst um sein Leben bekommen, dass er am anderen Tag die ersten weißen Haare bekommen hatte, mit 28 Jahren.
Unsere Mutter kannte er von klein auf. Als sie heiratsfähig geworden war, begann er, um sie zu werben. Sie sträubte sich lange, ihn zu heiraten, bis sie schließlich „musste“. Am Tag der Hochzeit (23. November 1940) war sie bereits im siebten Monat schwanger. Als schwangere Braut konnte sie kein weißes Brautkleid tragen. Das war für sie eine schwere Kränkung, die sie ihrem Mann wohl ihr Leben lang nicht vergeben hat. Im Winter 1940/41 kam unser Vater nach Perbál zurück. Dort war er bei der Geburt meines Bruders dabei (Januar 1941).
Er muss noch mindestens bis Mitte Mai 1941 in Perbál gewesen sein, denn ich kam neun Monate später zur Welt. 1942 war er auch noch in Perbál. Wie er uns sagte, zog ihn die deutsche Wehrmacht nach ihrem Einmarsch in Ungarn 1943 nicht ein, weil er nirgendwo mehr als Soldat erfasst war, weder bei den Ungarn noch bei den Deutschen. Angeblich musste er sich nicht mehr bei der ungarischen Armee zurückmelden, vielleicht, weil er Vater von zwei Kleinkindern war und schon zwei Brüder im Krieg verloren hatte. Somit war er der einzige lebende Sohn der Familie.
Vater auf dem Motorrad
Mitglied im Volksbund
Die Auslandsorganisationen der deutschen Minderheiten in Ländern, die die deutsche Wehrmacht überfallen hatte/sollte, wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges dem Chef der SS, Heinrich Himmler, direkt unterstellt. Sie galten damit als Naziorganisationen. Von unserem Vater kann ich sagen, dass er kein Nazi war. Keine seiner Äußerungen, die ich jemals von ihm hörte, lässt darauf schließen. Aber er war Mitglied des Volksbundes der Deutschen in Ungarn. In Perbál war er sogar der Kassierer des Volksbundes. Die allgegenwärtigen Neider im Dorf warfen ihm vor, aus diesem Grund nicht an der Front zu sein. Uns sagte er, dass ihn „die Perbáler Weiber“, deren Männer im Krieg waren, bedrohten. Er musste also weg und flüchtete. Vielleicht hatte er Angst, dass sie ihn wirklich umbringen wollten.
Beim Einmarsch der Wehrmacht war im Haus seiner Eltern ein Offizier einquartiert gewesen, den mein Vater kannte. Als er aus Perbál verschwinden musste, sei er nach Budapest auf die Csepel-Insel zu dem Offizier gegangen, der dort in einem Stab war. Dieser habe ihn gefragt, was er wolle. Als er ihm sagte, er wolle sich zur Wehrmacht melden, habe der Offizier ihm gesagt, er solle sofort abhauen und sich nicht mehr blicken lassen. Wo ging er hin? Wieder zurück nach Perbál? Das ist unwahrscheinlich. Eventuell hielt er sich bei Verwandten in der Umgebung auf?
Wie er unserer Schwester Maria erzählte, schloss er sich im Sommer 1944 an eine deutsche Wehrmachtseinheit an und kam in deren Gefolge an den Plattensee. Dort verloren Hitlers Elitetruppen gerade eine Schlacht gegen die auf Budapest vorrückenden Sowjetsoldaten. Regulär gehörte er dieser Einheit nicht an, konnte sich dort aber Verpflegung holen. Geschlafen hat er in Scheunen, Schuppen oder Ställen. Mit dieser Einheit kam er zunächst nach Slowenien. Er habe dort keinen Schuss abgegeben. Ursprünglich habe er desertieren wollen, das sei ihm aber schließlich zu gefährlich gewesen. Über die Mur kam er nach Österreich und von dort nach München. Dort stellte er sich den Amerikanern und kam in amerikanische Gefangenschaft, ins Lazarett.
Mir hat er auch erzählt, dass er von Slowenien aus über die Mur nach Österreich gekommen sei. Dort habe er sich zusammen mit einem Kameraden ein Mittel (Kupferlösung?) in die Augen gerieben. Sie schwollen stark an und wurden rot. Die beiden seien dadurch in einen Lazarettzug aufgenommen und nach München gebracht worden, wo sie in amerikanische Gefangenschaft gerieten. Aus einem Lager schrieb er einen Brief an seine Mutter nach Ungarn. Sie wusste also, wo er war. Dass er an seine Mutter schrieb – und nicht an seine Frau – ist bezeichnend für ihn. Gehungert hat er bei den Amerikanern nicht. Drei Wochen lang bekam er, wie er sagte, nur „Kochkäse“ zu essen. Es könnte aber auch ein anderer Käse gewesen sein. Jedenfalls hat er seit dieser Zeit kaum noch Käse gegessen.
Koch bei den Amis
Nach einer gewissen Zeit im Lager, hatte er dort, wohl weil er kochen konnte, als Koch gearbeitet. Er wurde dann in ein Magazin der amerikanischen Armee versetzt: Materialausgabe für US-Soldaten. Dort „organisierte“ er zusammen mit zwei anderen alles Brauchbare, v. a. aber Ami-Zigaretten. Unsere Mutter holte diese Zigaretten in München ab, und der Kopp-Opa vertrieb sie in Berghofen und Umgebung, wohin es seine Familie verschlagen hatte. Mutter soll alle 14 Tage nach München gefahren sein. Auf diese Weise unterhielt er seine Familie, die inzwischen nach Nordhessen vertrieben worden war. In München lernte er die Zofe von Marlene Dietrich kennen und später auch diese selbst in ihrer Wohnung. Ob er ein Verhältnis mit einer der beiden hatte? Darüber sprach er nicht. Später oder zur gleichen Zeit hatte er ein Verhältnis mit einer anderen Frau, Name unbekannt. Mit ihr hatte er angeblich einen Sohn. Was aus ihm geworden ist, ist nicht bekannt. Unsere Mutter hat diese Frau bei ihren Fahrten nach München selbst kennengelernt. Sie wollte ihn zu seiner Familie zurückholen. Er wollte aber bei der Frau in München bleiben und nicht zu seiner Familie nach Berghofen kommen. Er hätte dadurch seinen Job im Magazin verloren, der offenbar sehr bequem und lukrativ war.
Von unserer Mutter und dem Kopp-Opa wurde er unter Druck gesetzt, zu seiner Familie zurückzukehren. Einmal ist er zu Besuch gekommen – wahrscheinlich Anfang 1947 – und wieder nach München zurückgefahren. Den Ausschlag, dass er im Spätherbst 1947 doch zu seiner Familie zurückkam, gab wohl ein Brief seiner Mutter: Sie drohte ihm darin an, „ins Wasser zu gehen“, wenn er bei der Frau in München bleibe.
Er kam mit dem Fahrrad
Er kam mit einem Fahrrad und einer ledernen schwarzen Aktentasche von Marburg aus zu uns. Bis Marburg/Lahn war er mit dem Zug gefahren. Vor uns Kindern stand ein hagerer fremder Mann mit einer Schirmmütze. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob er uns in den Arm genommen oder wie er uns sonst begrüßt hat. Nur an diese Aktentasche erinnere ich mich. Sie enthielt neben Ami-Zigaretten ein „Staverl“: den bereits erwähnten lederbezogenen Rohrstock. Nach den oben