Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln. Hans Max Freiherr von Aufseß
Kriegsgerichtsrat und ich – Heidi in ihr Soldatenheim nach Hause u. besuchten draußen eine schöne große Farm, um zu entscheiden, ob der Pächter gegen den Willen der Verpächterin verbleiben sollte. Die alte 84jährige [Dame] Lady Vernon50 empfing uns in dem sehr englischen Landhaus am Kamin, daß mir alles wie die Fortsetzung des soeben gesehenen Films vorkam mindestens im Milieu der Einrichtung und des Geschmacks. Danach kehrten wir bei Heidi im Soldatenheim ein.
Es war reizend aber einfach vorgerichtet. Die [34] Extrasachen aus besonderen Schubladen, die es bei anderen Schwestern gibt und die man eigentlich nur mit schlechtem Gewissen gegenüber dem einfachen Soldaten annehmen kann, unterbleiben unangenehmerweise.51 Wir unterhielten uns vergnügt. Ich habe das stete Bestreben, in der Unterhaltung nie zu gewichtiges Ernstes zu sagen, mehr zu spielen und am liebsten ganz gegenwärtig und vergnügt zu sein. Es kommt mir nicht auf philosophische Gespräche als vielmehr auf eine phil. Einstellung an. Nun gibt es aber seltener Menschen, die einen im inneren Bestreben so ähnlich sind, daß man sich plötzlich mehr aufdeckt und bekennt. Wenn mich Heidi mit ihren blauen klaren Augen voll Sagens und träumerischen Ernsts etwas fragt, denn wäre mein Scherzen eine zu billige Antwort gewesen. Denn sie ist nicht ein Kind und nicht unreif in der Frage, die sie stellt, sondern eine geistige Per- [35] sönlichkeit steht dahinter und die gute Stirne, die feine Nase und die klaren Augen sind der Tempelsitz hiervon. Gleich reagiert sie auf die Antwort herrlich richtig und findet fehlende Worte und Vergleiche dazu. Ich komme manchmal nicht davon ab, sie gegenständlich als etwas ungeheuer richtig und Wohlgelungenes zu betrachten, an dem ich meine reine Freude habe, wie an einem edlen Kunstwerk. Nur lebt dies alles und erwidert und ist beweglich folgend und hat eine eigene Seele und seine Gefühle und Hoffnungen und Sorgen. Ja müßte meine seltsam starke Berührung durch sie nicht auch eine Erwiderung in ihr finden. Ich werde mich nie verraten und sie auch niemals ausfragen. Ich beherrsche meine Sinne und meine Worte so sehr wie sie die ihrigen. Ich liebe meine Frau und ich werde nie etwas zerstören oder auch nur stören, was [36] unsre Ehe oder die offene Zukunftsbahn von Heidi berühren würde.52 Beherrschte Leidenschaften sind Tugenden heißt es irgendwo.53 Jetzt, wo ich dieses nachsage komme ich mir unangenehm brav moralisch vor. Bin ich immer so beherrscht und müssen Leidenschaften sich immer gleich wie tobende Stiere gebärden? – Diese fürchte ich nicht, aber sind es nicht die stillen Passionen, die sich ansammeln und eines Tages überbrechen, die gefährlichen? –
Es sind nun schon wieder viel zu viel Tage verflossen, ohne daß ich zum Schreiben kam. Nie mehr kann ich alles so nachholen und ich versuche das Wesentliche nur noch nachzuholen.
Am Mittag vor der Abreise nach Paris fuhr ich mit Pelz zu Heidi hinaus, um [37] Bilder von ihr zu machen. Sie saß erst neben mir am Tisch und der gut gelaunte Pelz brachte an sich die besten Voraussetzungen, um bei aller Natürlichkeit die ersten Versuche zu machen. Aber welches sensible Geschöpf ist schon Heidi. Jeden Augenblick anders und von einer entzückenden Spanne vor jedem festhaltenden Blick der Kamera. Also gingen wir in das Freie. Aber nun durfte ich auch nicht mehr vom Photographieren reden, wenn es nicht den schönen Tag unter einen einzigen unbeliebten Zweck setzen sollte. Es war ein greller Sonnentag mit hellen weißen Wolken und einer weiten Fernsicht, ein frischer Wind blies aus dem Wasser, ein idealer Tag zum Photographieren. Heide nahm ihr klösterliches Häubchen ab und [38] nun flatterten ihr wild die gelockten dunklen Haare um den Kopf. Jeder Augenblick bot neue reizvolle Bilder. Ich war so entzückt von den entzückenden Bewegungen und dem Aussehen, daß meine Kamera nur schwer nachkommen konnte. Wenn mich bisher ihr Wesen stark angezogen hatte, so hat mich diesmal ihr Aussehen völlig betört. Nach lustigem Herumklettern über den senkrechten Küstenabfall zum Meer fuhren wir noch auf dem Meeresgrund 5 Seemeilen weit durch die Aubinsbucht54. Es war ein glücklich schöner Nachmittag voll Lebenslust, Freude und versteckter Verliebtheit.
Am Abend fuhr überraschend früh unser Boot aus.55 Es stürmte inzwischen [39] immer mehr und unser Vorpostenschiff begann bald mächtig zu schwanken. Schwester Elisabeth, die leibgewordene Pflichterfüllung und Tüchtigkeit, saß schweigend in sich gekrümmt und heftig mit sich kämpfend im Freien mit auf der Kommandobrücke. Ich wollte ihr etwas Ablenkendes sagen, aber leider wurde dies gerade zum Anlaß für die ausbrechende Übelkeit. Oberst Prahl56 mit seinen abstehenden Ohren und dem Wichtigtuergesicht des hochgekommenen Halbgebildeten redete große Töne von »meinem« Stab und »meiner« Batterie und »meiner« Stellung, weiter reicht es ja nicht bei ihm. Der Oberst hatte auch zwischen den Pausen des über Bord sich Aussprechens genügend mit sich zu tun. So konnte ich das [40] Meer genießen, die abziehenden sich überschlagenden Wellen beobachten und an den zauberhaften Nachmittag zurückdenken, in dem der hübscheste Mädchenkopf mit wirbelnden Haarlocken noch so frisch und anziehend darinstand.57
Nach fünfstündiger Überfahrt und vielem vorigem Lichtverständigen58 stiegen wir an Land und es erwartete uns in dem Küchennebenzimmer von Monsieur und Madame im Hotel Modern ein geradezu fantastisches Essen. Das Zimmer war gerade nur so groß, daß der große Tisch und die Stühle darum Platz hatten. An die bildlose Wand gedrängt, stand das größte Durcheinander von Kinderstühlen, Schuhen, [40] Strickzeug, Kartons u. s. w. herum. Der Raum war also ausschließlich für konzentriertes Essen gedacht. Der Hauptzug des alternden französischen Ehepaars nach gutem Essen war geradezu drastisch an dem riesengroßen Tisch in dem winzigen fenster- bilderlosen Zimmer verkörpert.
Die Reise nach Paris verging viel zu rasch. Die Sonne war durch Nebel hindurchgebrochen und nun glänzte alles saftig grün und golden feucht. Ich ging nicht mehr vom Fenster weg und genoß diese letzten schönen Herbsttage, die nirgends köstlicher als in Frankreich erschienen. Paris lag dagegen im dicken Dunst und wie wir die Wälder von Versailles59 verließen verschwand die Sonne.
[41] [1944]
5. 6. Nach vielen Monaten dahinfließender Zeit setze ich meine Aufzeichnungen fort:
Am frühen Sonntag Morgen geritten. Satan war herrlich geputzt und wie stolz darauf. Ich klatschte ihm liebevoll die edle Linie der Kammmähne und flüsterte ihm eigenerfundene Koseworte, die er so wenig verstand, wie ich sie hätte erklären können. Nach der Hindernisbahn lief ungerade, häßlich quer ein schwarzer Kater über die Bahn. Kurz drauf verlor Satan u. [unleserlich] einen Huf. Er hatte den Vorzug, ich verließ den Pulk und bummelte nun ganz für mich nach Hause. Man sieht immer mehr allein und führt mehr Zwiegespräche mit den Dingen.
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11. 8. [1944]60
Ich mache mir innerlich Vorwürfe, so wenig Aufzeichnungen gemacht zu haben. Die Zeit ist äußerst spannend und Stoff in Überfülle in der Zwischenzeit angelaufen. Aber zur Entschuldigung dient, daß noch immer ein Briefverkehr möglich war. So habe ich die letzten Möglichkeiten so ausgiebig ausgenützt, daß schon zeitlich nichts für ein Tagebuch übrig blieb. Gestern ist St. Malo gefallen.61 So sind wir endgültig abgeschnitten.62 Bei dem äußerst klaren Tag sehen wir deutlich die Rauchwolken über der zerstörten Stadt. Gedenke, welche Herrlichkeit und Stolz einer alten Seestadt hier so bildlich in Rauch vergeht. Unsre Lage ist seltsam: Engländer und wir sind beide Gefangene. Auf der Karte anzusehen, liegen nur die kleinen Inseln unbedeutend weit mitten im englisch beherrschten Land. Der Schlachten- [43] lärm rückt von uns ab. Wir spaßen über die Vergeßlichkeit der Engländer, uns hier liegen zu lassen.63
Vormittags bei Oberst Heine64 im stickigen Bunker. 1400 Marineleute haben uns als zusätzliche Esser von St. Malo beglückt. Sie hätten dort dem schwer kämpfenden Heer lieber helfen sollen. Aber man soll nicht inselhaft egoistisch sein. Die wären schon tot oder in Gefangenschaft und dürfen nun hier in den Straßen scharwenzelnd ihr Leben genießen. Gefangene Amerikaner sind auch gekommen. Man möchte mehr von ihnen wissen. Mit welchen Überzeugungen kämpfen sie [44] eigentlich in Europa. Vorläufig scheinen sie nur anmaßend nach mehr u. besseren Zigaretten und nach Süßigkeiten zu verlangen, die wir alle längst nicht mehr haben. Einer hat das ganze Gesicht von einem Flammenwerfer verbrannt und rechts u. links in der Schulter Durchschüsse. Rührend wie der Feind durchgepflegt wird. Er wird am Ende durchkommen.65
6 Propaganda Leute der Marine sind gleichzeitig mitgekommen und stellen sich dem Festungskommandanten vor. Sie wollen Dienststelle aufmachen und