Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
So hat er Angst vor Wandlung, vor Unvorhergesehenem und Veränderung. Er hat die Neigung, „alles beim Alten zu belassen“76, und will „immer das Gleiche, schon Bekannte und Vertraute“.77 „Diese Menschen haben immer die Angst, dass alles sofort unsicher, ja chaotisch würde, wenn sie auch nur ein wenig lockerer ließen, dem Andersartigen sich öffneten und nur etwas nachgäben oder sich einmal spontan überließen, ohne die immerwährende Selbst- und Fremdkontrolle.“78 Sie haben Angst vor der Selbstverantwortung, dem Wagnis, der Spontanität. So weichen sie neuen Erfahrungen aus, sind wenig geöffnet und zeigen ein starres Festhalten an Überkommenen, u. a. auf Gebieten beruflicher, „familiärer, gesellschaftlicher, moralischer, politischer, wissenschaftlicher und religiöser Art“.79
„Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherheitsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewusste Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit.“80 „Je mehr wir also das Alte festzuhalten versuchen, umso mehr müssen wir die Angst vor der Vergänglichkeit empfinden.“81 Dies ist der Mensch, der in der Krise schnell seinen Vorrat an Nudeln, Mehl und Toilettenpapier auffüllt, damit alles so weitergeht wie bisher.
Leergekaufte Bestände an Toilettenpapier im März 2020
Eine Frau schrieb: „Mein Spruch beim Bäcker, nachdem die Verkäuferin mindestens fünfmal gesagt hat, dass sie ja nur Vorschriften befolgen würde, war: ‚Wie bei den Nazis, da haben auch immer alle nur Vorschriften befolgt.‘ Die Tusse meinte dann zur Polizei, ich hätte sie als Nazi bezeichnet. Habe das richtig gestellt und der Polizei gesagt, dass ich das sogar jederzeit wiederholen würde und dass das für sie im Übrigen gleichermaßen gelte. Sie schauten peinlich weg und gingen dann.“82
„Der zwangshafte Mensch hat Schwierigkeiten mit seinen Aggressionen und Affekten. Er hat es früh lernen müssen, sich zu kontrollieren und zu beherrschen; spontane Reaktionen sind … angstbesetzt.“83 Die Affekte der Zwanghaften Persönlichkeit sind daher abgedrosselt.84 „Bei ihm wird der Verzicht auf die Affekte meist über die Ideologisierung der Selbstbeherrschung und Selbstzucht vollzogen: Affekte zu äußern, ist dann ein Zeichen von Sich-gehen-lassen, von Sich-nicht-in-der-Hand-haben, ein Verhalten, das unter seiner Würde ist.“85 „Für die Aggression Zwanghafter ist es … charakteristisch, dass sie sich an Normen, Regeln und Prinzipien hält; sie geschieht bevorzugt ‚im Namen von …‘ und pflegt eng mit dem Machttrieb gekoppelt zu sein. Dadurch kann man ihnen die Aggression oft schwer nachweisen, und sie bekommt gleichsam etwas Überpersönliches, Anonymes, wohinter sich die persönliche Lust an der Aggression verbirgt.“86 Zwangshafte Menschen finden sich daher bevorzugt in Berufen, die Macht „im Namen der Ordnung, der Zucht, des Gesetzes, der Autorität“ ermöglichen, z. B. bei Politikern, Militärs, Polizei, Beamten, Richtern, Staatsanwälten und Lehrern.87 Dort halten sie sich streng an die Buchstaben des Gesetzes und können als pflichtbewusster, pedantischer Beamter zum „unmenschlichen Paragraphenmenschen“ werden.88
Sie leben durch Überkorrektheit ihre Aggressionen aus und tarnen ihr Verhalten vor sich selbst damit, dass sie ja nur konsequent etwas Richtiges, einen Wert vertreten.89 Gleichzeitig haben sie das gute Gewissen, damit etwas Notwendiges zu tun.90 Eine Dame reagierte auf eine aggressive Verkäuferin konsequent: „An der Kasse eines Supermarktes. Ich hatte ca. 50 % des Wagens schon geleert, als mich die Kassiererin aufforderte, eine Maske aufzuziehen. Ich sagte nein, ich habe ein Attest und bin befreit. Da meinte die Dame, das interessiert nicht, dann darf ich nicht einkaufen. Daraufhin habe ich die Waren und den Einkaufskorb so stehen gelassen und mich mit den Worten:‚Dann eben nicht‘ entfernt.“91
Eine etwas mildere Variante der … „legitimierten“ Aggression ist die übermäßige Korrektheit, die, neben der Unterdrückung der Aggression, wohl die häufigste Form zwanghafter Aggressionsäußerung ist – ohne dass dem Zwanghaften hierbei die Aggression bewusst zu sein pflegt.92 „Wenn alles so bleibt, wie es ist: Die Gegenstände auf dem Schreibtisch in geheiligter Ordnung; die Meinung über etwas in unverrückbarer Gültigkeit; ein moralisches Urteil in paragraphenhafter Starre; eine Theorie in unangreifbarer Behauptung; ein Glaube in unerschütterlicher Absolutheit – dann scheint die Zeit stillzustehen. Alles ist dann voraussehbar, die Welt ändert sich nicht mehr, und das Leben bringt nur mehr die Wiederholung des Gleichen und schon Bekannten – dann ist aus lebendig pulsierendem Rhythmus gleichförmig-stereotyper Takt geworden.“93 Um ja nichts falsch zu machen, zaudern, zögern und zweifeln diese Menschen, wie wir es in den letzten Jahren insbesondere in den Verwaltungen erleben müssen, die sich immer mehr vor Verantwortung drücken und die, statt Entscheidungen zu treffen, sich in monatelangem Prüfen und Paragraphenjonglieren verstecken. Na, und in der Politik kennen wir es ja auch schon viele Jahre.
Die zwanghafte Persönlichkeit zeigt das „Kulturgut des Untertanengeistes“.94 Prof. Dr.-Ing. Jürgen Althoff stellte fest: „Der deutsche Untertan lebt und sehnt sich nach staatlicher Bevormundung. Rationalität und Fakten stören nur und sind ‚irgendwie räächts‘, und wer will sich das schon nachsagen lassen …!“95 Als treuer Untergebener ist der Zwanghafte ein Liebling jeder Regierungsmacht. Er stabilisiert ja das bestehende System. So auch in Coronazeiten. Am liebsten noch mit einem unterwürfigen „Jawoll, Frau Bundeskanzlerin, jawoll, Herr Bundeskanzler!“.
Zwanghafte Menschen können sich „schwer damit abfinden, dass etwas oder jemand sich ihrer Macht entzieht, ihrem Willen nicht untersteht. Sie möchten alle und alles dazu zwingen, so zu sein, wie es ihrer Meinung nach sein sollte“.96 Und wehe, andere halten sich nicht an die Regeln, da kann er sich schnell zum Denunzianten entwickeln, der seine Nachbarn und Kollegen verpfeift. Ein Denunziant fühlt sich im moralischen Recht, wenn er einen anderen bei Behörden meldet oder in der Öffentlichkeit anprangert. Dadurch, dass er einen vermeintlichen Verstoß aufdeckt, meint er, selbst moralisch besser zu sein, da er ja die Regeln befolgt. Ja er sieht dieses Vorgehen sogar oft als seine Pflicht als gehorsamer Bürger an. So kann er sowohl seine eigenen Hass- und Machtgefühle ausleben und gleichzeitig gut dastehen. Häufig erhofft er sich dabei auch eigene Vorteile, z. B. bei der Regierung als loyal zu gelten und zu zeigen, dass er auf Linie mit den Machthabern ist. Dies senkt seine Angst, womöglich selbst ein Opfer von totalitären Maßnahmen zu werden. Darum war das Denunziantentum besonders im NS-Staat und der DDR so weit verbreitet. Jeanette Neuendorf schrieb korrekt: „Bewusst oder unbewusst wird sein Handeln jedoch im Kern von Angst bestimmt.“97
In der Coronazeit blüht das Denunziantentum förmlich auf. Nachbarn werden bei den Behörden gemeldet, weil sie mit Bekannten zusammen auf der Terrasse Kaffee trinken oder sie auf dem Parkplatz keine Maske tragen. In Bielefeld setzte jemand Ende Februar 2021 die Polizei in Bewegung, weil die Partei Die Basis ihren von den Ordnungsbehörden genehmigten Parteitag abhielt.98 Ein Bürger schrieb: „In meinem Heimatort wurde nun wegen eines Kindergeburtstages von Kindern im Kindergartenalter der Spielplatz bis auf Weiteres gesperrt. Anwohner hatten die Mütter mit ihren Kindern verpfiffen. Ich bin empört über die Anwohner, den Bürgermeister und das Ordnungsamt und nicht zuletzt auch über Personen aus meiner eigenen Familie, die es mit ‚Wer nicht hören will, muss fühlen!‘ kommentierten. Was passiert nur mit uns.“99 Die Liste des Denunziantentums würde für 2020 und 2021 wohl viele Bücher füllen; wir wollen es dabei belassen. Es heißt nicht umsonst „Der größte Schuft im Land, ist und bleibt der Denunziant!“ Nur, er selbst merkt das nicht. Zum Glück werden nicht alle Zwangshaften Persönlichkeiten dazu, aber hier liegt das Potenzial dazu.
4.2 Die Histrionische Persönlichkeit
„Mit der Furcht fängt die Sklaverei an,
aber auch mit Zutrauen und Sorglosigkeit.“
Johann Gottfried Seume, Schriftsteller und Dichter (1763–1810).
Als genaues Gegenteil des Spießbürgers möchte die Histrionische Persönlichkeit Wandlung und Veränderung und ist immer auf der Suche nach dem Neuen. Sie ist spontan und ihre Interessen wechseln wie die Jahreszeiten. Jeder neue Hype ist willkommen.