Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
sind. Hieraus können wir erklären, warum wir uns noch heute bei Angst so oder so verhalten.
Im Internet war im Herbst 2020 ein bewegendes Video zu sehen. Eine weit über 90 Jahre alte Frau, die im Krieg mehrere Personen vor den Nazischergen versteckt hatte, wurde gefragt, was die Angst mit den Menschen damals gemacht habe. Sie antwortete: „Da waren alle ganz still und haben sich zurückgezogen, wenn sie keine Kämpfernatur waren.“ Übersetzt heißt das also, wenn sie keinen Mut hatten und nicht geflüchtet waren, gingen sie in die Erstarrung. Und genauso verhalten sich die Menschen in der Coronazeit. Eine Flucht ist nicht möglich, da ja fast die ganze Welt betroffen ist, einen Angriff gegen die Regierungen trauen sie sich noch nicht zu. Die Folge ist der soziale Rückzug in die eigenen vier Wände. Dieses Verhalten wird noch dadurch unterstützt, als in den Lockdowns Gaststätten sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind. So verkriechen sich die Menschen und vermeiden auch private Kontakte über die Verbote der Coronaregelungen hinaus. So geschah es, dass eine Freundin zum 60. Geburtstag nur Absagen beschert bekam, obwohl private Geburtstagsfeiern zulässig waren. Die Menschen gehen nur noch raus, wenn sie zur Arbeit oder zu notwendigen Besorgungen raus müssen. Viele Geschäfte, in denen man früher stöberte, leiden darunter. Laufkundschaft gibt es nicht mehr und was die Leute brauchen, bestellten sie verstärkt über das Internet. Unser Postbote, immer noch gut gelaunt, schuftet heutzutage deutlich mehr als vor Corona, seine Paketanlieferungen haben sich 2020 verdoppelt. Wo früher in den Fußgängerzonen reges Leben war, schleichen jetzt ein paar vermummte Gestalten daher; wo früher die Touristen Leben brachten, sind nun die Hotels geschlossen, Kneipen und Restaurants dunkel und vor der Kleinkunstbühne und dem Kino prangen Hinweise: „Wegen Konkurs geschlossen.“ Selbst wo früher der allabendliche Stau stattfand, rauscht man während des Lockdowns ab 19 Uhr über verlassene Straßen. Und zu Hause werden dann schnell die öffentlich-rechtlichen Medien eingeschaltet, um sich die tägliche Angstauffrischung reinzuziehen. Ist das noch ein menschenwürdiges Leben?
Dieser Rückzug an allen Fronten geschieht als Reaktion auf Angst. Er ist ein alter Schutzmechanismus, der uns viele Jahrtausende das Überleben gesichert hat, als wir noch in der Natur lebten. In der modernen Gesellschaft dagegen hindert er uns am Leben. Ein Spruch unbekannter Herkunft tauchte 2020 im Internet auf: „Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Zeit erleben würde, in der so viele Menschen so große Angst vor dem Sterben haben, dass sie bereitwillig aufhören zu leben.“
Angemerkt sei noch, dass manche Tiere die drei Möglichkeiten auch in Kombination nutzen. Erst ein Stück Weglaufen und dann irgendwo verstecken. Oder erst verstecken und nur im Notfall angreifen, wie manche Schlangen das machen. Eine Schlange ist für den Menschen eigentlich kaum gefährlich, da sie uns schon bemerkt, wenn wir noch weiter entfernt sind. Kommen wir ihrem Versteck aber zu nahe oder treten wir ahnungslos auf sie, dann beißt sie zu, geht also nach dem Erstarren in den Angriffsmodus. Anders macht es der Hase. Er versteckt sich im Gras und erst, wenn wir ihm zu nahe kommen, wechselt er auf den Fluchtmodus und rennt plötzlich los. Das erschreckt uns erst einmal und diese Schrecksekunde nutzt er, um schon mal Abstand zu bekommen. Zusätzlich hat dieser „Angsthase“ die Strategie, im Zickzack zu laufen, wodurch ein Verfolger noch mehr verwirrt wird. Eine prima Dreierkombination, um zu überleben.
Auch der Mensch kann zwischen den drei Strategien wechseln. Der Mutige, der seinen Job und seine Ersparnisse verloren hat, kapituliert vielleicht und zieht sich depressiv zurück. Wer sich zurückzieht, flüchtet vielleicht irgendwann nach Schweden oder überwindet seine Angst und wird zum tapferen Kämpfer gegen die Unterdrückung. Alle Kombinationen sind möglich.
Häufig wurde schon die Frage gestellt, welche Ängste genetisch oder epigenetisch angeboren sind. Bei unseren Vögelchen ist es sicher die Angst vor dem Feuer, bei uns Menschen ist das weniger klar, treten die einzelnen Elemente, vor denen wir Angst haben, doch bei jedem etwas anders auf. Ist Höhenangst vielleicht ein Relikt aus der Frühzeit, oder Angst vor Dunkelheit oder Geräuschen im Dunkeln? So ganz klar ist das nicht. Allerdings scheint manches Schutzverhalten evolutionär angelegt zu sein. Schauen wir uns einmal an, wie sich eine Gaststätte füllt, so sehen wir zumeist, dass erst die Tische an den Wänden besetzt werden, die in der Mitte zuletzt. Den Rücken sichern und Ausblick nach vorne haben, ist eine gute Methode, um in der Wildnis zu überleben. Intuitiv wenden wir sie immer noch an, kommen heute allerdings dann auch damit klar, wenn wir als zuletzt kommend nur noch einen Tisch in der Mitte finden. Angst scheint also eventuell auch teilweise genetisch oder epigenetisch in uns prädisponiert zu sein. Doch sie zu überwinden, können wir lernen. Aber wir können auch lernen, Ängste zu bekommen. Und das geht leider sehr leicht. Schauen wir uns zunächst an, wie Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen durch Lernen entstehen kann.
33 NIETZSCHE 1881.
34 FROMM 1956.
35 Vgl. FREUD 1926, GOLDSTEIN 1971, KIERKEGAARD 1984, GONDECK 1990, LACAN 2010.
36 In neuester Zeit haben sich besonders der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther und der Psychologe Prof. Dr. Rainer Mausfeld um wertvolle Beiträge zum Thema Angst verdient gemacht (HÜTHER 2018, 2020a, 2020b, MAUSFELD 2019a).
37 Zur Lebenswelt der Serengeti siehe u. a. GRZIMEK & GRZIMEK 1959.
38 A. A. 2019a, b, c, d.
39 Juliane S., Mitteilung vom 08.09.2020.
40 Mitteilung von Juliane S.
41 Mail von Madlin Handt vom 01.09.2020.
42 TSOKOS 2020.
43 Es gab tatsächlich auch Gewalt, allerdings nicht von Seiten der Demonstranten. Einige Antifa-Aktivisten versuchten zu randalieren. Am Hauptbahnhof konnte eine Gruppe beobachtet werden, die sehr schnell und effektiv von einer Polizeieinheit gestoppt wurde. Bei einem der eingesetzten Reisebusse wurden von Antifamitgliedern Scheiben eingeworfen.
44 In der Presse wurde am selben Abend noch berichtet, die Masse hätte „Sieg-Heil“ gerufen, was eine infame Lüge war.
45 A. A. 2020zzz.
3. Angst ohne den Leoparden
„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen,
der wird am Ende beides verlieren.“
Benjamin Franklin,
amerikanischer Wissenschaftler und Staatsmann (1706–1790).
„Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt,
wenn man es nicht benutzt.“
Voltaire, französischer Philosoph (1694–1788).
Wird ein Kind geboren, hat es erst einmal vor vielen Dingen keine Angst. Trifft ein einjähriges kleines Mädchen etwa auf eine Maus, so findet es diese interessant und spielt mit ihr. Warum auch nicht. Ein kleines Mäuschen ist harmlos und süß und weich und kuschelig. So vergnügt man sich miteinander. Nach einer ganzen Weile kommt die Mama hinzu, sieht die Maus und schreit laut auf. „Iiihhh, eine Maus!“ Sie schnappt das Kind entsetzt und erregt und nimmt es rettend auf den Arm. Das Kind wundert sich, spürt aber die Emotionen der Mutter. Es war alles so schön, aber Mama ist so ängstlich. „Ist dir auch nichts geschehen, mein Kind?“ „Nee“, denkt das Kind und spürt, dass es wohl