Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter

Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit - Jürgen Wächter


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nicht allein, sondern fünf erwachsene Jäger aus seiner Familie sind bei ihm, alle mit Lanzen bewaffnet. Höchste Gefahr, aber zusammen schaffen wir das (Entschuldigung, solche Urmenschensprüche verwenden manche noch heute). Die Steinzeitmenschen richten alle ihre Lanzen in Richtung Leopard, ihr Adrenalinspiegel steigt, ihre Muskeln spannen sich an. Sie richten sich auf, machen sich groß und gehen mutig auf den Leoparden los, von drei Seiten gleichzeitig. Dabei schreien sie ihn so laut sie können an. „Du Mistvieh. Wir zeigen es dir!“ Ihre Pupillen erweitern sich. Der Erste wirft seine Lanze, die den Leoparden verfehlt. Der Leopard faucht und reißt sein Maul auf. Wieder fliegt ein Speer, der ihn am Hinterlauf trifft. Jetzt wird er vollends wütend, greift an. Wir sehen in sein zähnebesetztes Maul, sehen seine Reißzähne vor uns, er springt uns an. Intuitiv richten wir die Lanze auf seinen Hals. Alles geht so schnell, wir stoßen zu. Treffer. Der Leopard schreit auf, Blut spritzt. Dann bricht er tot vor uns zusammen. „Jaaah, Sieg. Geschafft. Die Bestie ist besiegt.“ Wir alle jubeln vor Freude, Stolz. Wir sind die größten. Schließlich ziehen wir dem Tier sein Fell ab und hängen es uns triumphierend um. Wir sind so stark wie ein Leopard. Wir sind sogar noch stärker. Wir sind unbesiegbar.

      Die Menschen hatten ein Zeichen gesetzt, hatten gezeigt, dass sie keine Angst haben, dass sie sich nicht ängstigen lassen. Es gibt also eine Möglichkeit, aus der Angstspirale herauszukommen, den Angriff, der sogar in friedlicher Form erfolgen kann. Bevor wir später näher darauf eingehen, wie man seine Ängste auf friedliche Weise überwinden kann, wollen wir aber zuerst die dritte Reaktionsweise auf Angst sowie die sozialen Ängste betrachten. Die dritte Form haben zu Coronazeiten die meisten Menschen gewählt, die Erstarrung.

      Es kann gefährliche Situationen geben, wo eine Flucht nicht möglich ist und wir auch nicht die Kraft eines Angriffs haben. Wir fühlen uns zu klein und es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Was macht unser Steinzeitvorfahre dann? Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte über unsere beiden Wellensittiche Peti und Anthea. Sie wohnen in ihrem Käfig, der auf der Fensterbank in der Küche steht. Meist können sie sich frei im Raum bewegen und sie fliegen gern hin und her oder sitzen auf ihrem Lieblingsplatz, oben auf der Gardinenstange. Das geht natürlich nicht, wenn wir kochen, denn die Herdplatten sind viel zu heiß und gefährlich. An einem Abend saßen sie daher in ihrem Käfig, während wir Fisch in der Pfanne zubereiteten. Dabei geriet etwas Fett auf die Herdplatte und es gab eine Stichflamme, nur ein bis zwei Sekunden lang. Am Fliesenspiegel blieb etwas Ruß zurück, ansonsten verlief alles glimpflich. Alles gut also.

      Aber ganz anders reagierten Peti und Anthea. Sie saßen völlig erstarrt und total verängstigt in der hinteren Ecke ihres Käfigs und wirkten wie ausgestopft. Keine Regung, kein Pieps, nur ein starrer Blick in Richtung Herdplatte. Nicht mal eine Bewegung der Augenlider war erkennbar. Die beiden Wellensittiche hatten sich offenbar erschrocken, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch nie ein Feuer gesehen hatten. Auch konnten sie nie selber gelernt haben, dass Feuer gefährlich sein kann. Für ihre Vorfahren in Australien, was sicher mehr als zehn Generationen zurücklag, bedeutete Feuer in Form von Buschbränden im Outback allerdings eine große Gefahr, auf die durch die großen Wellensittichschwärme mit Fortfliegen, also Flucht, reagiert wird. Insoweit macht eine Angst vor Feuer Sinn. Aber dass diese Angst so tief in ihrem Erbgut gespeichert ist, das war uns neu. Aber woher kam nun ihre Erstarrung?

      Das Feuer hatte tiefste Angst ausgelöst. Angriff dagegen war nicht möglich. Also Flucht. Doch diese ging am Gitter des Käfigs nicht weiter. Sie saßen fest. Auch die Flucht funktionierte also ab da nicht mehr. Als dritte Lösung auf Gefahr trat nun der Totstellreflex ein. Peti und Anthea saßen völlig erstarrt in der hintersten Ecke des Käfigs. Wir gingen zu ihnen und erklärten ihnen liebevoll, dass alles okay sei. Keine Reaktion. Wir pfiffen ihr Lieblingslied. Auch keine Reaktion. So ging es eine ganze Stunde lang. Auch das Vorspielen eines Videos mit Wellensittichen auf dem Handy, ihr Lieblingsprogramm, führte zu keiner Reaktion. Völlige Erstarrung. Wir redeten ihnen ermutigend zu, imitierten ihre Töne des Wohlbefindens. Nichts. Erstarrung. Nach etwa eineinhalb Stunden bewegte Peti leicht sein Bein und innerhalb der nächsten halben Stunde kamen leichte Bewegungen auf, um Kontakt miteinander aufzunehmen und sich eng aneinanderzuschmiegen und sich gegenseitig zu trösten und zu kuscheln.

      Was bringt so eine Erstarrung? Bei Feuer eigentlich nichts. Beim Buschfeuer wären die beiden so verbrannt. Aber im Australischen Outback gibt es ja auch keine Gitter und die Flucht wäre erfolgreich gewesen. Die Erstarrung ist eigentlich nur der letzte Versuch, wenn die beiden anderen Strategien nicht zum Zuge kommen können.

      Schauen wir wieder unseren Steinzeitmenschen an, der allein durch die Savanne zieht. Wieder kommt ein Leopard. Das Unterbewusstsein checkt wieder ab. Flucht? Nein, der Steinzeitmensch ist heute zu langsam. Angriff? Nein, er ist zu schwach und seine Lanze zerbrach eben beim Erbeuten eines Savannenhasen. Geht also auch nicht. Was nun? Dritte Strategie also. Der Steinzeitmensch schleicht langsam zu einem großen Felsen, lehnt sich in eine Nische und verhält sich ganz leise. Nur nicht auffallen. Vielleicht verliert der Leopard ja das Interesse. Bloß kein Geräusch machen. Auch keine Atemgeräusche. Bloß keine Bewegung, die die Raubkatze bemerken könnte. Ruhig bleiben. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie soll man innerlich ruhig bleiben bei einer so direkten Gefahr. Aber es muss sein. Am besten, wir schalten alles ab, dann sind wir am ruhigsten. Und so schaltet unser Inneres tatsächlich ab. Wir erstarren, werden in eine Art Winterschlaf versetzt oder fallen ganz in Ohnmacht. Herzschlag und Atmung werden automatisch auf das absolut Nötigste heruntergefahren. Wir wirken wie tot. Und so werden wir tatsächlich am wenigsten bemerkt, zumindest eine kleine Chance besteht als letzte Lösung. Vielleicht zieht so der Leopard von dannen. Viele Tiere fressen nur frisches Fleisch. So entdeckt der Leopard uns vielleicht, hält uns aber für tot und zieht, angewidert von diesem Aas, Leine. Erst nach einer ganzen Zeit erwachen wir wieder. Aber vorsichtig. Die Gefahr könnte ja noch da sein. Vorsichtig öffnen wir die Augen. Nichts zu sehen. Dann erst leichte Bewegungen, vorsichtig weiter ausschauend. Der Leopard ist weg und so kehrt die Lebenskraft zurück. Noch schwach, ruhen wir uns wieder unter der Akazie aus, gar nicht genau wissend, was eigentlich genau geschehen ist.

      Grundsätzlich bestehen die drei angeborenen Möglichkeiten, um auf eine Gefahr zu reagieren, der Angriff, die Flucht und das Erstarren. Diese drei Möglichkeiten treten nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei allen Säugetieren auf.


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