Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
erlebe das auch selber so in meinem Umfeld teilweise. Da ist richtig Panik teilweise. Immer noch. Da gibt es Leute, die haben richtig Angst!“27 Viele Menschen sagen: „Ich habe bloß noch Angst!“ Die Folge ist, dass die Psychotherapeuten derzeit völlig überlastet sind. Probst Gerald Goesche aus Berlin berichtete: „Ganz viele Menschen sind tot in ihren Wohnungen aufgefunden worden mit Abschiedsbriefen: ‚Ich halte es nicht mehr aus‘.“28 So heftig war es mit der Angst noch nie. Warum immer wieder Angst? Und warum wird sie so extrem schlimmer und findet immer neue Anlässe?
Dr. Peer Eifler sagte: „Da das ja mein Hauptmetier jetzt hier in Österreich ist, ich bin ja fast ausschließlich als ärztlicher Psychotherapeut tätig, d. h. ich habe ganz viele posttraumatische Störungen mit Menschen, die ganz viel Angst haben, mit Menschen, die Angst verdrängt haben, die ganz fürchterliche Dinge passiert haben, was manchmal Jahre, Jahrzehnte im tiefsten Inneren schlummert. Und dann kommt was und drückt sie über die Klippe und nimmt ihre letzten Chancen, damit irgendwie zu funktionieren. Genau das ist eigentlich passiert auf einer kollektiven Ebene.“29 Verfassungsrichterin Juli Zeh stellte ebenfalls fest, dass Corona „konkurrierende Fundamentalängste auslöst, die aufeinanderprallen“.30 Vor einem Virus, vor Existenzverlust, vor dem Regierungshandeln und mehr. „Hier wird eine Ur-Angst geweckt, die Ur-Angst vor Krankheit, Siechtum und Tod“, sagte Friedrich Pürner, Epidemiologe und Leiter des bayerischen Gesundheitsamtes.31 Der weitdenkende Hirnforscher Gerald Hüther sieht eine „zunehmende Verunsicherung“ in der Gesellschaft, in der die Menschen nach „Halt und Orientierung“ suchen. „Solche Phasen allgemeiner Verunsicherung sind Umbruchphasen einer Gesellschaft.“32 Wir sind ebenfalls der Überzeugung, dass wir es mit einer historisch bedeutsamen Umbruchphase des politischen, ökonomischen, finanzwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems auf unseren Planeten insgesamt zu tun haben; darauf werden wir in Kapitel 11 näher eingehen. Ebenso stimmen wir Hüther völlig zu, wenn er schreibt: „Erst wenn wir verstehen, weshalb und wovor Menschen Angst haben und was mit ihnen dann passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen.“
Im Folgenden werfen wir daher einen ersten Blick auf das Phänomen der Angst. Dabei gehen wir davon aus, dass die Angst nicht durch noch mehr Sicherungssysteme und Vorsorge überwunden werden kann, sondern nur durch das Verständnis, was unterbewusst in unseren Köpfen geschieht. Schauen wir nicht auf die angeblichen Gefahrenstellen, sondern auf unser Inneres, unsere persönlichen Schwächen und unsere inneren Stärken. Dieser Weg kann uns tatsächlich dazu führen, dass wir unsere Ängste schließlich abbauen und minimieren und vielleicht einmal ganz verlieren. Und dann haben wir nicht nur persönlich einen riesigen Wachstumsschub gemacht, dann verändern wir damit auch die Welt.
4 BURCHARDT 2020.
5 OLLES 2020a.
6 WODARG 2020.
7 OTTE 2020.
8 SARRAZIN 2016: 16.
9 A. A. 2020zl.
10 KUBICKI 2020a.
11 WESTDEUTSCHER RUNDFUNK 2020.
12 KOCH 2013: 1. Zur German Angst siehe auch BODE 2016.
13 Vgl. BENESCH 1994: 227.
14 A. A. 2020zzzzd.
15 A. A. 2020zzl.
16 MIEGEL 2016.
17 HAGEN 2020: 17–18.
18 Deutsche Industrienorm.
19 FUREDI 2002.
20 SUNSTEIN 2007.
21 HAWKINS 2013: 117.
22 ALTHOFF 2020a.
23 WOLF 2018: 7.
24 GROMES 2020.
25 STÄHELI 2013: 94.
26 STRAUB 2020b.
27 LANZ 2020.
28 A. A. 2020zzzf.
29 EIFLER 2020a.
30 ZEH 2020.
31 KATTENBECK 2020.
32 HÜTHER 2019: 13.
2. Der Sinn der Angst und ihre drei Überlebensstrategien
„Der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz.“
Friedrich Nietzsche, Philosoph (1844–1900).33
„Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie
eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.
Dabei ist das Wichtigste, dass man den Mut hat, nein zu sagen.“
Erich Fromm, Psychoanalytiker (1900–1980).34
Angst ist eine der zentralen Emotionen des Menschen. Daher ist auch die Psychologische Wissenschaft schon seit früher Zeit bemüht, eine Definition und eine Erklärung für ihr Auftreten zu finden. Viele dieser Bemühungen schlugen jedoch fehl und führen nicht weiter, u. a. die Versuche einer Abgrenzung zwischen den Begriffen Furcht und Angst, die Frage, ob Angst eines Objektes bedürfe, dem gegenüber die Angst entstehe, die Ableitungen von Geburts- und Todesangst oder gar Sigmund Freuds Verbindung mit sexuellen Aspekten, wie seiner Theorie vom Ödipuskomplex.35 Die Psychotherapie hat sich lange auf die krankhaften Formen der Angst konzentriert, die „normale“ Angst hat auch sie vernachlässigt.36
Die Zahl der Dinge, Ereignisse und Gedanken, vor denen wir Angst haben können, ist nahezu endlos. Wir alle kennen die Angst vor dem Tode, vor Höhe, dem Alleinsein, vor Alter, Krankheiten, Geräuschen in der Nacht, Tunneln, Fahrstühlen, Dunkelheit, Spinnen, Mäusen, Hunden, großen Plätzen, Enge, dem Zahnarzt mit seinem Bohrer. Dazu kommt Angst vor Enttäuschung, Prüfungsangst, die Angst, missverstanden oder nicht geliebt zu werden, nicht anerkannt oder verlassen zu werden, die Angst vor Ablehnung, Autorität und Arbeitslosigkeit, die Angst vor Kritik, allgemeine Zukunftsangst, die Angst vor