Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
hat die Angst keine Macht mehr über dich
und die Angst vor Freiheit schrumpft und verschwindet. Du bist frei.“
Jim Morrison, amerikanischer Rockmusiker (1943–1971).
„A Meinung ham, dahinter steh’n.“
Liedtitel von Andreas Gabalier (*1984)
und Xavier Naidoo (*1971), Musiker.
Der Mensch mit Depressiver Persönlichkeit bildet wohl neben der Zwanghaften Persönlichkeit die größte Gruppe in den deutschsprachigen Ländern. Alles in ihm, „was an Wünschen, Impulsen, Affekten und Trieben in ihm ist“, wagt nicht zu leben.107 Menschen mit dieser Persönlichkeit haben ein geringes Selbstwertgefühl und meist eine sehr unzureichend ausgeprägte Ich-Stärke. Von Ich-Schwäche muss man bei ihnen wohl eher reden. Sie haben es noch nicht geschafft, ihre innere Persönlichkeit zu entwickeln, selbst wenn sie dies manchmal nach außen mit einer vorgespielten Maske von Scheinheiligkeit und großem Gebaren zu verdecken versuchen. Der typische Gutmensch gehört in diese Gruppe, also der Mensch, der versucht, nach außen moralisch und sozial dazustehen, dabei aber die Mitmenschen, die nicht auf seiner Linie sind, ausgrenzt und anprangert. Eine wirklich stabile, in sich ruhende Persönlichkeit ist die depressive Form also nicht. Sie hat vielmehr starke Angst, diesen Entwicklungsschritt zu wagen.
Um trotzdem mit dem Leben zurechtkommen zu können, sind diese Menschen sehr beziehungsorientiert und typische Gruppenmenschen. Denn in der Gruppe finden sie den Halt, den sie sich selbst nicht geben können. Dieses Eintauchen in die Masse kann die Angst vor der Individuation aufheben. „Der depressive Mensch ist dieser Angst besonders ausgesetzt. Bei ihm kann schon ein Sich-von-anderen-Unterscheiden, ein anderes Denken oder Fühlen die Verlustangst konstellieren, weil er es als Entfernung und Entfremdung erlebt. Deshalb versucht er, alles ihn von anderen Unterscheidende aufzugeben.“108 So tut er, was die anderen auch tun, und fühlt sich in der Gruppe, in der Masse der sich gleich Verhaltenden, aufgefangen und beschützt. Der Einzelne gibt seine Individualität auf und wird zum „Trabant eines anderen“109, nämlich der Gruppenlinie.
Die Depressive Persönlichkeit braucht somit die Gruppe, in der alle gleich ticken und in der sie sich sicher aufgehoben fühlt. Und „wenn nun ein Mensch einen anderen so dringend braucht, wird er danach streben, die trennende Distanz zwischen sich und ihm so weit wie möglich aufzuheben. Ihn quält die trennende Kluft zwischen Ich und Du.“110 So macht man das, was die Gruppe macht, hat man die Meinung, die die Gruppe hat, und übernimmt die in der Gruppe herrschenden Regeln und Werte. In der Coronazeit braucht man sich noch mehr und so tauscht man sich via Handy intensiv darüber aus, wie die beste Coronamaske zu nähen ist, und imitiert gerne vielgelikte Stoffkunstwerke. Natürlich hilft man allen anderen in der Gruppe, tauscht Kochrezepte, hilft beim Kirchenbasar und erweckt den Anschein, immer lieb und nett zu sein. Denn „für die erstrebte Harmonie und ungetrübte Nähe muss der Depressive nun seinerseits ‚gut‘ sein und befleißigt sich daher aller altruistischen Tugenden: Bescheidenheit, Verzichtsbereitschaft, Friedfertigkeit“, bis hin zu überwertiger Bescheidenheit, „Überanpassung und Unterordnung bis zur Selbstaufgabe, im Extrem bis zu masochistisch-hörigen Verhaltensweisen. All das lässt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: Durch das Aufgeben eigener Wünsche, durch den Verzicht auf das Eigen-Sein die Verlustangst, die Angst vor der Einsamkeit, zu bannen und sich der deshalb gefürchteten Individuation zu entziehen“.111 „Widerspruch gegen die Herde ist so viel wie Trennung von ihr und wird darum angstvoll vermieden.“112
All das, bloß um dazuzugehören, nicht auf sich allein zurückgeworfen zu werden. Denn „bei den depressiven Persönlichkeiten ist die Verlustangst die dominierende, in ihren verschiedenen Ausformungen als Angst vor isolierender Distanz, vor Trennung, Ungeborgenheit und Einsamkeit, vor dem Verlassenwerden.“113 „Je weniger wir gelernt haben, unser Eigen-Sein, unsere Selbstständigkeit zu entwickeln, umso mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche.“114
Wunderbar ist für ein totalitäres Regime, dass die Depressive Persönlichkeit sehr friedlich ist und niemals wagt, zu protestieren. Denn „wie kann er aggressiv sein, sich behaupten und sich durchsetzen, wenn er voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und so auf Liebe angewiesen ist?“115 Nun, der depressive Typ kann gar „nicht gesund aggressiv sein“.116 „Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität.“117 Denn Aggressivität könnte schließlich seine sichere Position in der Gruppe gefährden. „Was kann man aber mit seinen Aggressionen machen, wenn sie einem so gefährlich erscheinen? Eine Möglichkeit ist es, auszuweichen. Das lässt sich vielleicht dadurch erreichen, dass man eine Ideologie der Friedfertigkeit entwickelt. Dann nimmt man Gelegenheiten zur Aggression und diese selbst nicht mehr wahr, in und außer sich … Je mehr man im Rahmen einer solchen Ideologie sich zurücknimmt, sich kränken lässt, ohne sich zu wehren, sich eigene Affekte nicht erlaubt, umso mehr muss man zum Ausgleich dieser Haltungen kompensieren durch das Gefühl moralischer Überlegenheit – ohne dass man indessen erkennt, dass das auch eine – sublime – Form der Aggression ist. Diese Haltung lässt sich steigern bis zur Dulderrolle, die bis zum seelischen, moralischen und sexuellen Masochismus führen kann.“118
In einer Situation wird die Depressive Persönlichkeit jedoch gleichwohl aggressiv, und das kann sich eine Regierung ebenfalls zunutze machen. Aggressivität erscheint, wenn ein Gruppenmitglied aus der Reihe schert, sich nicht mehr der Gruppenmeinung fügt, ja sogar wagt, Kritik zu äußern und einen eigenen Weg zu gehen. Dann wird das ganze Repertoire der Empörung, der Denunziation, des Schlechtredens und der Infamie aufgemacht. Entweder der Einzelne fügt sich dann in ganzer Reue oder, wenn er den Schritt zu einer wachsenden Ich-Stärke gemacht hat, verlässt er stolz und selbstbewusst diese Gruppe, aus der er sich psychisch und seelisch herausentwickelt hat. Stolz können die Menschen sein, die dies schaffen, egal ob sie den Ausstieg bei Scientology, ihrer Kirchengruppe oder der schon lange entfremdeten Alten-Freunde-Gruppe geschafft haben. Und neue Menschen lernen sie allemal kennen, nämlich die, die es ebenso geschafft haben oder auf der Reise sind, auf eine andere Bewusstseinsstufe zu gelangen.
Da die depressive Persönlichkeit große Angst vor Selbstwerdung und Isolation hat, lässt sie sich bequem lenken, so wie es der Schäferhund mit seiner Herde macht. Sie ist das, wovon jede Regierung nur träumen kann, solange man nur Angst erzeugt, aber zugleich eine gemeinsame Rettung verkündet, so wie Corona und die Impfung. Man muss diese Menschen gar nicht viel lenken, sie fügen sich von selber. Das ist es, wenn Bauer schreibt: „Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden uns nicht nur genommen, wir nehmen sie uns auch selbst. Weit mehr als erforderlich, unterwerfen wir uns dem Druck des Konformismus und der Anpassung an die vermuteten Erwartungen anderer.“119 So stehen dann alle Schafe Schlange vor den Coronaimpfzentren.
Die depressive Form ereilt nicht nur einzelne Menschen, sondern kann ganze Gesellschaften erfassen. Nach Rassenunruhen kam es vor, dass wildfremde Menschen, die nie einem anderen etwas Böses getan hatten, sich vor dunkelhäutige Menschen zu Boden warfen und ihre Füße küssten. In Deutschland entschuldigen sich Personen für die Nazigräuel, die geschahen, als sie noch gar nicht geboren waren. In den USA schämen sich Weiße ihrer Hautfarbe und reißen Kolumbusdenkmäler ein und in England schämen sich Menschen ihres einstigen Empires, das schon Jahrzehnte nicht mehr besteht.
Dies alles geschieht aus einer Ich-Schwäche, gekoppelt mit Schuldgefühlen, Selbsthass und der Angst, nicht dazuzugehören, und drückt sich in Scham aus. „Scham ist der emotionale Begriff für den Verstoß gegen die bejahten Erwartungen der Mitmenschen“.120 Und davor hat die Depressive Persönlichkeit die größte Furcht.
In der Coronazeit sind diese Menschen daher artige Individuen, die tun, was man ihnen sagt. Und wie der Zwangshafte Mensch neigen sie zur Denunziation, wenn jemand aus der Gruppe ausschert. Was wollen Regierungen mehr als viele von solchen noch nicht aufgewachten Untertanen.
Selbst wenn man den Coronamaßnahmen kritisch gegenübersteht und der Depressive Persönlichkeitsanteil gering ist, fühlt es sich komisch an, wenn man anders ist als die anderen Menschen. Eine Frau schrieb dementsprechend: „Mir passiert es auch öfter, dass ich in