Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel


Скачать книгу
Innovationen aus. Weniger erfolgreich war der Versuch Böhmens, aus dem Reichsverband auszuscheiden: Mit dem Böhmischen Aufstand begann 1618 der Dreißigjährige Krieg. Ab da wusste man in europäischen Regierungsstuben allerdings, was die Uhr geschlagen hatte, und wandte sich mit massiver Gewalt gegen ähnliche Versuche, „abtrünnig“ zu werden. Der Feldzug des revolutionären englischen Diktators Oliver Cromwell gegen Schottland im Englischen Bürgerkrieg (1648) gehört in diese Linie oder auch die kriegerischen Versuche Spaniens, den Abfall Portugals, Kataloniens oder Aragons zu verhindern, was wiederum zum Streit mit Frankreich führte. Parallel zum Dreißigjährigen Krieg führten in dieser Zeit und aus diesem Grund Spanien und Frankreich 24 Jahre lang Krieg gegeneinander (1635–1659)!

      Ein dritter Grund, damit verknüpft, waren die konfessionellen Verwerfungen, die ja nicht nur in Deutschland zu politischen Konflikten führten.9 Die Reformation eröffnete eine Dimension von Solidarisierung wie von Verfeindung. Dass man sich mit denen zusammentat, die gleichen Glaubens waren, ist in diesem Zusammenhang die idealistische Interpretation. Die materialistische – man könnte auch sagen: die politische – trifft wahrscheinlich die Sache eher: dass man mit denen, denen man sich zugehörig oder von ähnlichen Interessen glaubte, eines Glaubens sein wollte. Konfession wurde zu einem Instrument wie auch Faktor politischer Homogenität. Evangelisch wurden deshalb in Deutschland viele Fürsten, die schon zu Territorialherren geworden waren und mittels des Glaubens auch ihre politischen Interessen schützen wollten, gegen einen katholischen Kaiser. Der gleiche Glaube bedeutete auch einen politischen Kitt. „Cuius regio eius religio“, also die religiöse Homogenität in einem Herrschaftsbereich: Das erlaubte umgekehrt auch, den Herrschaftsbereich nach konfessionellen Mustern zu strukturieren und so eine vorpolitische Zusammengehörigkeit zu ermöglichen, die ihrerseits staatsbildend wirken konnte – und hier lag wiederum ein wesentliches Hemmnis für das konfessionell gespaltene Reich, zu einem Staat zu werden. Im stärker zentralisierten Frankreich und in England waren es dagegen nicht Regionen, sondern bestimmte soziale Gruppen, die reformatorischen Gedanken zugeneigt waren. In England wandten sich der Hochadel und König Heinrich VIII. von Rom ab und gründeten die anglikanische Nationalkirche. Teile des Adels, vor allem in Schottland, blieben dagegen katholisch; zwei königliche Sukzessionslinien unterschiedlicher Konfession entwickelten sich damit: die anglikanischen Tudors und die katholischen Stuarts. Davon wiederum setzten sich unter verschiedenen Namen (Puritaner, Presbyterianer, Kongregationalisten, Baptisten) radikale Protestanten in reformierte Freikirchen ab, die sowohl Katholizismus als auch Anglikanismus zu klerikal fanden. Vor allem städtische Bürger und kleine Adlige (Gentry) gehörten ihm an. In Frankreich waren es ebenfalls vor allem städtische Gruppen und kleine Adlige (auffallend viele in Südwestfrankreich, wo es seit dem Mittelalter eine solide Ketzertradition gab), die sich als „Hugenotten“ zu einer calvinistischen Version des reformierten Protestantismus bekannten und die die staatskirchliche Position der katholischen Kirche, die eng mit dem König verbunden war, ablehnten. Die konfessionelle Spaltung (die genau betrachtet eine Spaltung in drei war: Katholiken, Lutheraner/Anglikaner, Reformierte/Puritaner) hatte somit das Zeug zu einem Bürgerkrieg, in dem neue Gruppen (Bürger, Territorialherren) in Konflikt mit etablierten mächtigen (weltlichen oder kirchlichen) Gruppen gerieten. Und alle hier beschriebenen Konflikte haben auch zum Krieg geführt.

      Ein vierter Grund für den Krieg war die Entstehung verschiedener Staaten selbst. Denn die Zeitgenossen (jedenfalls auf dem Kontinent) waren es nicht gewohnt, dass es mehrere Reiche nebeneinander gab. Es gab nach herkömmlicher Vorstellung nur ein universales Reich, in der Nachfolge des Römischen Reiches und des Petrusstuhls. Die anderen politischen Gebilde waren als Vasallen gedacht. Dafür stand der Begriff des Kaisers – eben in der Nachfolge des römischen Caesar. Wenn (bis ins 17. Jahrhundert üblich) „die Christenheit“ synonym war mit „Europa“, dann war an dieses universale Reich gedacht. Eine Koexistenz verschiedener gleichrangiger und strukturell ähnlicher Gebilde konnte es also nicht geben, höchstens eine Nachfolge. Diese Konstellation war auf internationaler Ebene ausgesprochen konfliktträchtig. Nicht nur das Heilige Römische Reich mit seinem Kaiser erhob nämlich diesen Anspruch, sondern auch Frankreich, dessen „allerchristlichster König“ (so seine Selbstbezeichnung) viele Kriege im 16. und im 17. Jahrhundert mit dem Anspruch führte, die Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation anzutreten. Es gab aber nicht nur diese Kandidaten. Auch der schwedische König Gustav Adolf verstand sich als Inkarnation eines skandinavischen Universalreichs in der Nachfolge der Goten (also quasi ein Gegenkonzept zum Römischen Reich). Und das Russische Reich sah sich seinerseits in der Nachfolge des Oströmischen Reichs von Konstantinopel in einer universalmonarchischen Mission. Ein ähnliches Selbstverständnis hatte aber auch – jedenfalls in der Wahrnehmung der christlichen Europäer – der Sultan des Osmanischen Reiches – auf den Islam als legitimierende Religion gestützt, aber eben vom alten Ostrom, Konstantinopel, aus.

      Beschleunigend wirkte, dass diese Staaten im Entstehen institutionell noch ausgesprochen instabil waren. Die Regeln, nach denen Politik verlaufen sollte, standen noch nicht eindeutig fest, wurden nicht eingehalten und Verstöße waren nicht nach einem allgemeinen Regelkatalog sanktionierbar. Das erwies sich beim Verhältnis von Monarch und Ständen (vor allem in England) oder bei der Frage der Einhaltung von Verträgen. Insbesondere an der monarchischen Nachfolge entzündeten sich häufig internationale Konflikte, so dass Erbfolgekriege ein häufiger Typus frühneuzeitlicher Kriege waren. Generell gilt: Das Fehlen anerkannter Regeln und Verfahren bedingte, dass man schnell zur Waffe griff.

      Die Kriegführung selbst reflektierte die hybride und noch unausgebildete Staatlichkeit. Die politische Herrschaft verfügte im Allgemeinen nicht über die Möglichkeiten, eigene stehende Heere aufzustellen, die eigenen Bauern waren militärisch zu wenig kompetent und mussten ja außerdem das Land bestellen, so dass der Krieg gewöhnlich mit kurzfristig angeworbenen, freiberuflichen Söldnern geführt wurde, die am Ende des Krieges wieder entlassen wurden. Deshalb war in Friedenszeiten die Banditenplage ein viel größeres Problem als im Krieg, weil die arbeitslosen Söldner sich neue Formen des Lebensunterhalts suchten. Manche Gegenden wie die Schweiz haben aus dem Söldnertum ein einträgliches Geschäft gemacht: Die Schweizer Bauernsöhne, die sich jedes Jahr nach der Ernte für die europäischen Kriegsschauplätze anwerben ließen, waren für ihre Kriegsfertigkeit (man könnte auch sagen: Brutalität) berühmt. Ein Überrest ist die vatikanische Schweizergarde.

      Die großen Kriege überließ der frühmoderne Staat im Wesentlichen privaten Kriegsunternehmern, die auf eigene Rechnung arbeiteten und mit Subunternehmern weitere Verträge schlossen; diese stellten die Offiziere der verschiedenen Einheiten, die dann notdürftig zu einer Armee zusammengebaut wurden. Im Dreißigjährigen Krieg waren 1500 Militärunternehmer verschiedenster Größenordnung tätig. Der Krieg wurde damit nicht privatisiert; er war ja vorher nicht öffentlich gewesen. Vielmehr könnte man ihn vielleicht als eine public-private partnership bezeichnen: als eine Auftragsübernahme der Staatsgewalt durch Private, in ständiger Konkurrenz um die Grenzen dieses Auftrags, denn viele Kriegsunternehmer wollten mehr als nur Subunternehmer sein und ihrerseits stabile politische Herrschaft bilden. Die relative Stärke der in dieser Zeit schon erreichten Staatsgewalt sieht man umgekehrt daran, dass es keinem der Kriegsunternehmer, nicht einmal Wallenstein, dem Erfolgreichsten, gelang, dauerhaft selbst staatsbildend erfolgreich zu werden.

      Die Währung, in der die privaten Unternehmer bezahlt wurden, konnte Geld, das Recht zu plündern, aber auch den Aufbau ganzer Adelsherrschaften umfassen. Das verlängerte den Krieg, denn die Soldaten und ihre Führer hatten ein regelrechtes beschäftigungspolitisches Interesse am Krieg, und es sind Fälle bezeugt (so bei der Belagerung von Groningen um 1500), wo Söldner im Dienste des Erhalts ihres Arbeitsplatzes einen Friedensschluss verhinderten.10 Und je länger die Kriege dauerten, je dichter sie aufeinander folgten, je mehr Ressourcen der Staat auch abschöpfen konnte, desto eher lohnte sich der Aufbau stehender Heere, die dann wiederum ein Kern der staatlichen Kriegführung im 18. Jahrhundert geworden sind. Insofern hat die Bellizität der Epoche den Aufbau eines staatlichen Militärapparats befördert, und damit auch den Ausbau einer staatlichen Steuer- und Schuldenverwaltung vorangetrieben11


Скачать книгу