Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
an diesen Kriegsepochen (die man sich nicht als kontinuierliche Kriegsgeschehen vorstellen darf) war die Breite an einbezogenen Akteuren: Nicht nur Monarchen, sondern auch große und kleine private Kriegsunternehmer wie auch die adligen Herrschaftsschichten (die sich in England im Parlament fanden, im Reich in den Reichsständen) waren beteiligt und suchten zu profitieren. Wir haben es fast immer mit einer Überkreuzung von inneren und äußeren Auseinandersetzungen zu tun. Muster des religiösen Konflikts, regionale Bestrebungen um Unabhängigkeit und die Kämpfe zwischen Monarchen und anderen Mächtigen vermischten sich und sind in der Fülle der Ereignisse, der Diskussionen darum, auch der Mythen, die darum gesponnen wurden, schwer auseinanderzuhalten. Ein Teil unserer Schwierigkeiten, diese Zeit zu verstehen, liegt auch darin, dass wir die eminente Bedeutung der Religion für das Staatswesen nicht mehr nachvollziehen können. Die Gewaltsamkeit war enorm, die Zerstörung von Gesellschaft, Ökonomie und Kultur zwangsläufig auch. Diese Kriege dauerten sehr lang und in unterschiedlicher Weise führten sie alle zu einer Zunahme an staatlichen Kapazitäten. Zum Beispiel bedingte die periodische Aushebung von Soldaten, dass der Staat besser Buch führte über seine Untertanen, dass Einwohnerschaft, Steuerzahlung und Religionszugehörigkeit genauer registriert wurden. Der katastrophische Eindruck, den man aus der Schilderung dieser langen Kriegsepochen gewinnt, täuscht insofern: Der Staat ging meist gestärkt daraus hervor.
a. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) 20
Dieser Krieg – eigentlich eine Abfolge von kleineren und größeren Auseinandersetzungen, die aber einen großen Teil Europas betrafen, von Frankreich bis Schweden, sich indes vor allem auf dem Gebiet des Reichs abspielten – war nur auf den ersten Blick (und vielleicht in der ersten Phase) ein Religionskrieg: eine Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Kaiser und seinen Verbündeten (der „Katholischen Liga“) einerseits und protestantischen Reichsfürsten andererseits, die bis 1621 in der „Protestantischen Union“ verbündet waren. Der Versuch, Böhmen zu rekatholisieren, war Auslöser des Kriegs; es handelte sich hier aber eben auch um einen Aufstand der böhmischen Stände (also des Adels), die sich dem Kaiser in Wien nicht mehr unterordnen wollten und auf staatliche Eigenständigkeit drängten. In dieser Weise war der Dreißigjährige Krieg vor allem eine Auseinandersetzung über die Verfasstheit des Reiches: Sollte das Reich zu einer zentralisierten Monarchie werden wie die anderen europäischen Monarchien oder sollte es eine Föderation mehr oder weniger selbständiger Staaten sein, mit dem Kaiser als primus inter pares? Gerade die Politik des Kaisers Ferdinand II. atmete den Geist des Absolutismus, indem sie wiederholt gegen selbstverständliche Verfassungstraditionen verstieß und sich über die Interessen der Reichsstände hinwegsetzte. Die Konfessionsfrage war in diesem Zusammenhang instrumentell, denn die protestantischen Fürsten beanspruchten ihre religiöse Landeshoheit als Teil ihrer staatlichen Autonomie – und der Kaiser bestritt diese. Da es eine kaiserliche Militärorganisation nicht gab und er keine Rücksicht auf die Reichsstände nehmen wollte, stützte sich der Kaiser auf Militärunternehmer wie Wallenstein.
Verkompliziert wurde die Lage dadurch, dass das Reich ein heterogenes Konstrukt verschiedener sich überlagernder Hoheiten war, in dem z. B. auch fremde Fürsten Mitglied des Reiches sein konnten, wenn sie hier Herrschaftsrechte hatten. Der dänische König Christian IV., Herrscher eines anderen Staates, war so gleichzeitig Herzog von Holstein und damit selbst Reichsstand; unter Berufung darauf trat er 1625 auf Seiten der protestantischen Fürsten in den Krieg ein. Insofern hatte der Krieg eine europäische Ausweitungsdynamik. Nach anfänglichen Siegen der Katholischen Liga schalteten sich andere europäische Mächte ein, die von dem Konflikt profitieren wollten, wie Frankreich und Schweden. Obwohl der Kaiser und die Reichsstände sich 1635 auf den Prager Frieden einigten, der den eigentlichen Konflikt hätte beenden können, ging deshalb der Krieg noch lange weiter. Wie wenig insgesamt der Begriff vom Religionskrieg trifft, lässt sich daran ersehen, dass das lutherische Schweden und das katholische Frankreich seit den 1630er Jahren miteinander verbündet waren.
Überall im Reich und an seinen Rändern flackerten die Konfliktherde auf: In der Pfalz, den Niederlanden, in Süddeutschland oder in Nordostdeutschland. Seit den 1630er Jahren führte die Ubiquität des Kriegs zusehends zu staatlicher Anomie, zu ungehemmter Gewalttätigkeit und zu wellenförmigen Kriegsaktivitäten – man darf sich den Dreißigjährigen Krieg nicht als ein permanentes Kriegshandeln vorstellen. Ebenso war aber auch ein Friedensschluss nicht möglich. Nach jahrelangen Versuchen und einem fünf Jahre dauernden Friedenskongress gelang es 1648, in Osnabrück und Münster den „Westfälischen Frieden“ abzuschließen, der territorial nicht sehr viel, staats- und völkerrechtlich aber sehr viel änderte – allein schon deshalb, weil hier erstmals alle europäischen Machthaber durch ihre Gesandten aufeinandertrafen: Der Westfälische Friede war historisch der erste multilaterale interstaatliche Friedensvertrag. Er war sowohl eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen verschiedenen Staaten wie eine Festlegung der verfassungspolitischen Verhältnisse im Reich. Vor allem beinhaltete er die Anerkennung von Gegebenheiten, wie sie waren, und also den Abschied von der oben skizzierten Vorstellung von der Universalmonarchie ebenso wie eine Absage an eine zentralisierte Monarchie in Deutschland. Stattdessen führt er eine Vorstellung ein, die in der Politikwissenschaft (weniger in der Geschichtswissenschaft) als „Westphalian System“ bekannt wurde: das Konzept von einander gleichberechtigten, souveränen Staaten, die als einzige rechtlich zur Kriegsführung berechtigt sind, Staaten, die durch klare territoriale Grenzen bezeichnet sind. All das war neu und, wie sich herausstellen sollte, zukunftsträchtig – wie sehr damals schon den Zeitgenossen und Beteiligten präsent, ist umstritten.21 Nach innen führte er zu einer neuen Machtbalance zwischen Kaiser und Reichsständen, einer Verrechtlichung der Beziehungen und der Verfahren. Insofern handelte es sich dabei nicht nur um einen Staatsbildungskrieg, sondern auch um den Krieg, in dem sich das moderne Staatensystem herausbildete.
b. Die Bürgerkriege in Großbritannien (1642–1689)
Wenngleich in Großbritannien eine zentrale Monarchie seit dem 13. Jahrhundert durchgesetzt war, bedeutete das keineswegs ein Ende der Konkurrenz um die Autorität; im Gegenteil: Sie war ständig umkämpft. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts war der Königsthron der Gegenstand permanenter gewalttätiger Konflikte zwischen den hohen Adelshäusern. Besonders während der „Rosenkriege“ (1455–1485) rivalisierten die beiden Kronprätendentenfamilien der York und der Lancaster mit Krieg und Meuchelmord um die Krone; so lange, bis die gesamte männliche Linie beider Familien ausgelöscht war.22 Shakespeare hat dieser Epoche Tragödiendenkmale gesetzt.
Ging es in dieser Epoche um die Konkurrenz von Adelsdynastien, so schob sich mit der Reformation und dem Aufkommen der absolutistischen Idee eine programmatische Dimension in die Familienstreitigkeiten. Der Kampf um die Macht wurde ein Kampf um Ideen – zumindest wurde er als ein solcher inszeniert. Die Auseinandersetzungen, die seit Anfang der 1640er Jahre in England kriegerische Gestalt annahmen und mit Unterbrechungen bis zum Ende der 1680er Jahre dauerten, sind nicht nur für die Erinnerung und Selbstmythisierung des Landes wichtig, sondern auch für die gesamte europäische Staatsbildung vorbildhaft geworden.23 Das gilt in besonderem Maß für die Staats- und Gesellschaftstheorie, nicht zuletzt durch die beiden wichtigsten Staatstheoretiker dieser Zeit, Thomas Hobbes und John Locke. Karl Marx und Friedrich Engels haben in der „Englischen Revolution“ der 1640er Jahre und in der „Glorious Revolution“ 1688/89 ein frühbürgerliches revolutionäres Fanal gesehen, das den Feudalismus abschaffte. Vieles davon ist historische Fortschrittsromantik. Vor allem ging es in diesen Jahrzehnten des Bürgerkriegs um eine Auseinandersetzung zwischen Monarch und dem Adel, der im Parlament versammelt war, um die Herrschaftsgewalt, genauer: einen Kampf gegen den immer wieder von neuem unternommenen Versuch der Könige, eine absolutistische Herrschaft einzuführen. Dieses Konfliktmotiv verband sich mit dem konfessionellen Konflikt, der auf dem Kontinent im Dreißigjährigen Krieg seinen Ausdruck fand; ähnliche Auseinandersetzungen waren auch im englischen 17. Jahrhundert bestimmend. Seit Heinrich VIII. 1534 England aus der katholischen Kirche gelöst und den freilich dem Katholizismus nicht eben entfernten Anglikanismus eingeführt hatte, spielte die konfessionelle