Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel


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Händeln, sondern unparteiisch sein und entscheiden – auch dies eine Ähnlichkeit zu Bodin. Mit dieser Theorie ist Hobbes als ein Vordenker des Absolutismus bezeichnet worden, und das sicher zu Recht. Er kann aber gleichzeitig als ein Vordenker der politischen Philosophie der Aufklärung gelten, die alle Institutionen auf der Basis von menschlicher Vernunft und menschlicher Entscheidung sieht. Der „Absolutist“ und Gottesgnadenkönig Karl II. selbst (der bei Hobbes Mathematikunterricht genommen hatte) war von der Theorie demgemäß gar nicht begeistert, weil Hobbes ja damit im Grunde jede Regierung rechtfertigte, solange sie souverän war und „funktionierte“.

      Als Widerpart zu Hobbes wird vielfach John Locke (1632–1704) verstanden. Der Arzt und Philosoph entwickelte seine politische Theorie vor dem Hintergrund der Ereignisse im Umfeld der Glorious Revolution. Auch er war Partei, und zwar gegen die Politik des Königs, und auch er musste mehrere Jahre ins Ausland ins Exil und kehrte erst 1688 nach England zurück. In seinen „Two Treatises of Government“ (1689) geht auch er von einem naturrechtlich gegebenen, ursprünglichen Recht des Menschen aus.31 Locke nimmt aber nicht wie Hobbes seinen Ausgang von der Angst, sondern von den Optionen: Der Naturzustand ist ein Raum der Freiheit, ohne vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Der Mensch hat das Recht, das Leben zu genießen, sich wirtschaftlich zu betätigen und Wohlstand zu erwerben. Mit der Zeit ist es aber vernünftiger, sich mit anderen auf die Regeln zu einigen – es kommt mehr heraus dabei, es geht gerechter zu und auch die Gewalt kann in Schranken gehalten werden. Auch bei Locke gibt es einen Gesellschaftsvertrag, den die Individuen abschließen und in dem sie Rechte an eine Obrigkeit abgeben. Jedoch ist diese Obrigkeit in ihrem Handeln und ihren Eingriffen in das Leben der Menschen gebunden daran, dass sie deren Leben, Recht und Eigentum schützt und deren Zustimmung findet. Ist das (über längere Zeit) nicht der Fall, haben die Menschen ein Widerstandsrecht.

      John Lockes Theorie betont die naturrechtlich gegebenen Freiheitsmomente stärker als Hobbes, der sehr viel mehr auf Frieden und Sicherheit abhebt. Seine Theorie gilt als die Basisformulierung einer staatlichen Vertragstheorie, wie sie im modernen Liberalismus aufscheint. Die Begrenzung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten und die Position des Individuums sind zentral; das sind sie aber auch deshalb, weil Locke schon – anders als Hobbes – von einer Marktgesellschaft her denkt, in der das Individuum nie nur als (Staats-)Bürger, sondern immer auch als ökonomischer Akteur imaginiert wird.

      Lockes Buch ist lange als eine Schrift gegen Hobbes gelesen worden, die politische Theoriediskussion hatte damit sozusagen zwei leicht identifizierbare und als Ausdruck von Zeiterfahrungen interpretierbare Pole. Inzwischen steht aber fest, dass Locke den Leviathan zwar gelesen hat und man implizite Hinweise darauf finden kann, dass Locke selbst aber einen anderen Gegner im Auge hatte: den zeitgenössisch diskutierten, heute aber fast unbekannten Robert Filmer, dessen posthumes Werk „Patriarchia“ (1680) eine (aus heutiger Sicht ziemlich schräge) schöpfungsgeschichtlich begründete Rechtfertigung des Absolutismus lieferte. Der Eindruck, dass Locke unmittelbar Hobbes vor Augen hatte, ist vielmehr ein Hinweis darauf, wie dicht und nah an den politischen Ereignissen damals die politische Theoriediskussion war. Anders gesprochen: Solche Argumente und ihre Polarität lagen in der Luft, weil sie sich unmittelbar aus den politischen Erfahrungen ergaben.32

      Resümiert man die politischen Theorien der Zeit mithin aus diesem Erfahrungshintergrund und den Konsequenzen, die sie ziehen, so betonen die meisten die Notwendigkeit einer Konzentration der Gewalt – mit Widerstandsrecht oder ohne. Dabei ist für sie der Staat nicht mehr die persönliche Angelegenheit des Fürsten; er wird vielmehr schon als Institution gedacht, für die der Fürst nur mehr Ausdruck ist: Nun gibt es eine „Staatsräson“, die höher steht als persönliche oder dynastische Interessen.33 Aber ob religiös begründet oder nicht: Es zeigt sich bei allen eine starke Betonung der vertragsrechtlichen Komponente. Nicht von oben wird eine Gesellschaft zum Staat pazifiziert, sondern es sind die Menschen selbst, die sich zusammentun und sich verpflichten, und dadurch wird Augenhöhe gegenüber dem Staat hergestellt. Hier findet sich auch ein Moment, auf das wir später bei der Idee des Staatsbürgers wieder stoßen. In ihrem eigenen Interesse gehen sie Bindungen ein und geben Souveränität ab, eine Souveränität, die „eigentlich“ ihnen gehört: In dieser Weise argumentieren alle diese Theoretiker vor einem naturrechtlichen Hintergrund. Diese Denkfigur der freiwilligen Aufgabe von Souveränität zugunsten einer höheren Instanz im Dienste von Frieden und Sicherheit – als Lernerfahrung aus entgrenzter Gewalt – wird uns später wieder begegnen: nach dem Zweiten Weltkrieg, in den suprastaatlichen Vereinbarungen und Organisationen.

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      1Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg.

      2Einflussreich geworden ist die polemische politikwissenschaftliche Analyse von Ekkehard Krippendorff, Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt 1986. Von Seiten der Geschichtswissenschaft: Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt; als Historischer Soziologe argumentiert Charles Tilly, War Making and State Making as Organized Crime, in: Evans u. a., Bringing the State Back In, 169–191.

      3Zur diesbezüglichen Debatte um den Dreißigjährigen Krieg: Burkhardt, Die These vom Staatsbildungskrieg.

      4Tilly, Formation of National States, 42.

      5Im Weiteren halte ich mich an Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit.

      6Roberts, The Military Revolution. Ein wichtiger Reader, der die wichtigsten Beiträge von 40 Jahren Diskussion beinhaltet: Rogers, The Military Revolution Debate. Als Überblick: Markus Meumann, Militärische Revolution, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, https://referenceworks.brillonline.com/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/*-COM_311411, letzter Zugriff: 14.10.2021. Ich folge hier Reinhard, Geschichte des modernen Staates, 76–82.

      7Parker, The Military Revolution.

      8Auch Charles Tilly ordnet sie in den Kanon der europäischen Revolutionen ein: Tilly, Die europäischen Revolutionen, 89–125.

      9Als europäisch orientierten Überblick: Brendle, Das konfessionelle Zeitalter.

      10Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1992, 273 f.

      11Exemplarisch für England: John Brewer, The Sinews of Power. War, Money, and the English State, London 1989.

      12Zum Folgenden Maier, Once within Borders, v. a. 50–81. Dass Grenzziehungen auch im vormodernen Personenverband getroffen wurden und notwendig waren, dass lineare Grenzen also nicht unumschränkt „modern“ sind, zeigt Rutz, Beschreibung des Raums.

      13Niklas Jaspert, Die Reconquista. Christen und Muslime auf der Iberischen Halbinsel 711–1492, München 2019, 69–75.

      14Moritz Isenmann (Hg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte, Stuttgart 2014.

      15Schaefer, Merkantilistische Wirtschaftspolitik. Zu Deutschland der Überblick von Rainer Gömmel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800, München 2010.

      16Behrisch, Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert.

      17Reinhard, Unterwerfung der Welt, 18. Zum Zusammenhang von spezifisch europäischer Staatsbildung, technologischer (vor allem militärischer) Innovation und europäischer Expansion: Philip T. Hoffman, Wie Europa die Welt eroberte, Darmstadt 2017.

      18Zum Folgenden auch: Roeck, Geschichte der Renaissance, 1019–1028.

      19Arnd Brendecke, Imperium und Empire. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009.

      20Als kurzer aktueller Abriss: Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg. Mit Blick auf unsere Thematik als Staatsbildungskrieg: Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg.

      21Heinz Duchhardt, „Westphalian System“.

      22Christine Carpenter, The Wars of the Roses. Politics and the Constitution in England, c. 1437–1509, Cambridge 1997.

      23Als Zusammenschau immer noch äußerst hilfreich: Schröder, Die Revolutionen


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