Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel


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die auch als Bauern tätig waren – und deren Getreide brauchte man ja auch. Deshalb gab es zur Zeit der Republik und in der frühen Kaiserzeit regelrechte Feldzugsaisons: Die Kriege wurden fast ausschließlich im Frühling (nach der Aussaat) geführt und möglichst vor Beginn der Ernte wieder beendet. Je größer das Reich wurde, desto schwieriger wurde das und desto weniger konnte Rom auf seine eigenen Bauern als Soldaten zurückgreifen, sondern musste diese aus den unterworfenen Völkern herauspressen oder sich Söldner einkaufen.

      (5.) Rom hat nicht nur versucht, seine Untertanen zur Steuerleistung heranzuziehen, sondern auch Informationen über sie zu gewinnen, wie rudimentär auch immer. Es ließ Volkszählungen durchführen, um die wehrfähigen Männer zu erfassen und ihren Besitz zu verzeichnen. Die Volkszählung des Augustus, die Josef und Maria nach Bethlehem zu reisen veranlasst, ist das bekannteste Beispiel, das sich allerdings nur auf einen Provinzialzensus bezieht. Dass Kaiser Augustus sein gesamtes Reich erfassen ließ: Das war nicht der Fall.

      (6.) Darüber hinaus erbrachte das Römische Imperium auch infrastrukturelle Leistungen, die man unter dem Begriff „Innere Staatsbildung“ verzeichnen könnte und die ihrerseits Verwaltungen hervorbrachten. Zu erwähnen wären vor allem Wasserleitungen, das imperiumsweite Straßensystem und eine umlaufende Währung. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. war das der Sesterz; 309 führte Konstantin der Große den Solidus ein, der bis ins Hohe Mittelalter als Leitwährung in Europa im Umlauf war. Aber auch die Einführung von Latein als Lingua franca, die eine Verständigung im ganzen Imperium ermöglichte, könnte darunter gerechnet werden.

      Allerdings wurden viele dieser Institutionen gewissermaßen nur im Prinzip entwickelt. Wie es in der Praxis aussah, steht vielmals auf einem anderen Blatt. Insofern war manches an der römischen Staatlichkeit mehr Idee als durchgehaltene Wirklichkeit. Viele der Momente moderner Staatlichkeit waren auch noch gar nicht oder kaum entwickelt. Das „Staatsvolk“ blieb jenseits des römischen Bürgerrechts, das, wie gesagt, lange Zeit nur für eine Minderheit galt, eine opake Sache; ein klares Staatsgebiet ließ sich jenseits der Stadt Rom nur schwer beschreiben; alle farbigen Eintragungen in historischen Atlanten, die so etwas wie ein Staatsgebiet mit klaren Grenzen suggerieren, sind reine Annäherung, wenn nicht gar Fiktion; der Staat war zwar gewalttätig, aber seine Staatsgewalt hatte Grenzen: Die öffentliche Sicherheit war nach modernen Maßstäben nur in engen Grenzen gegeben, denn eine Polizei im modernen Sinn – als bürokratisch organisierten Erzwingungsstab – gab es nicht.11

      Das Römische Reich war ein Imperium; damit ist ein Typ von großflächiger Herrschaft gemeint, der im 19. Jahrhundert seine größte Ausdehnung erlangte und der gewöhnlich dem Typ der Nation (den es zu römischen Zeiten noch nicht gab) entgegengesetzt wird. Wenn man das Römische Imperium mit der griechischen Polis vergleicht, so wird deutlich, dass die soziale und kulturelle Homogenität der Polis weitaus größer war. Das Römische Reich lebte mit der Heterogenität und kümmerte sich nicht viel um die sonstigen Belange der Untertanen. Die Griechen kannten eine gemeinsame Götterwelt. Im imperialen Rom galt das Prinzip, das im Pantheon baulich umgesetzt wurde: ein Tempel für alle Götter, die man sich so vorstellen mochte. Nicht nur Jupiter und Hera, sondern auch Isis, Mithras oder Jesus wurden hier verehrt. Der moderne Staat zieht es demgegenüber vor, eine einheitliche ideologische Grundlage (die meist nicht mehr religiöser Art ist) zu haben.

      Eine solche einheitliche Grundlage zeichnete sich ab, als das Christentum in Rom unter Konstantin dem Großen 313 zunächst erlaubt und schließlich unter Theodosius dem Großen im Jahr 380 faktisch zur Staatsreligion wurde. Die christliche Kirche ist einer der Gründe dafür, warum die moderne Staatlichkeit sich in Europa herausbildete. Die Kirche leistete nämlich eine innere Durchdringung der Gesellschaften, die ebenso protostaatlich war und die mit den Institutionen des Reichs enge Verbindungen einging. Die kirchliche Verwaltungsgliederung der Diözesen und Pfarreien ging einher mit einer planvollen Ausbildung von gebildeten Verwaltungseliten, den Priestern. Spezialisierte Bildungs-, Kultur- und Wirtschaftsinstitutionen entstanden in den Klöstern, die die Bildungszentren des Reichs wurden. Nach dem Niedergang des Römischen Reiches bildeten Klöster und Bischofshöfe im Frühmittelalter die Kerne protostaatlicher Funktionen – allerdings auf regionaler und nicht auf zentraler Ebene. Mit den Geistlichen gab es in einer Zeit, in der kaum jemand lesen und schreiben konnte, ein in der schriftlichen Verwaltung geschultes Personal, weshalb die hohen Beamten an den Königshöfen sehr häufig Geistliche waren. Die Kirche stellte ein weitläufiges Netz an Kommunikation zur Verfügung, das Latein war weiterhin eine Sprache, in der sie sich verständigen konnte. Nicht zuletzt verfügten die kirchlichen Amtsinhaber über eigene militärische Kapazitäten – man darf sich die Bischöfe zu dieser Zeit nicht allzu friedfertig vorstellen. In der ottonischen Zeit, also im 10. Jahrhundert, stellten sie bis zu zwei Drittel des Reichsheeres.

      Auch wenn eine neuere Forschung Momente von Staatlichkeit auch im Mittelalter entdeckt und auch auf den neuen Begriff der Governance Bezug nimmt, vor allem aber gegen die Vorstellung einer Linearität argumentiert, wird man trotzdem am Befund einer Entstaatlichung im Mittelalter nicht vorbeikommen.12 Über lange Zeit kam die soziale Ordnung weithin ohne staatliche Momente aus. Dieser Umstand war im 19. Jahrhundert und bis weit darüber hinaus lange Zeit nicht wirklich zur Kenntnis genommen worden. Vor allem für die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war der mittelalterliche „Staat“ eine Etappe auf dem Weg zum modernen Staat. Sie konstatierten eine kontinuierliche, aufsteigende Linie und begründeten die Momente der Staatlichkeit mit einer (wie sich bald herausstellte: recht imaginierten) Konstruktion einer spezifisch germanischen Staatlichkeit. Otto Brunners These und Begrifflichkeit von „Land und Herrschaft“ ist in der Rezeption selbst in die Kritik geraten, nicht zuletzt deshalb, weil Otto Brunner die nationalsozialistische Imprägnierung seiner Denkfiguren auch mit vielerlei Korrekturen nicht aus der Welt schaffen konnte. „Herrschaft“ war eben auch ein sehr deutscher Begriff. Dennoch ist festzuhalten, dass man die mittelalterlichen politischen Ordnungen nicht einfach als Vorgeschichte des modernen Staates sehen kann, viel weniger als die antiken Ordnungen. Anders gesagt: Rom und Griechenland sind unserem Verständnis von politischer Ordnung viel näher als das europäische Mittelalter. Dieses allerdings dürfen wir uns ebenso wenig als eine aufsteigende Linie (sozusagen: Das finstere Mittelalter wird mit der Zeit immer ein wenig heller.) vorstellen, sondern als unterschiedliche Stufen der Intensität von Staatlichkeit, die mal besser, mal schlechter funktionierte und die sich etwa in Frankreich eher und stabiler ausbreitete als im deutschen Sprachraum.

      Die globale Ordnung des Römischen Reichs zerfiel mit der sogenannten Völkerwanderung13, also seit dem 5. Jahrhundert, in fluide und fragile Stammesgesellschaften (die man sich keineswegs als ethnische Verbände vorstellen muss, wie dies eine ältere Forschung annahm!), die wenig soziale und politische Struktur hatten, die weithin auf mündlichen Beziehungen beruhten und vielfach auch ohne überregionale Wirtschaftsbeziehungen auskamen. Allerdings überlebten noch längere Zeit spätrömische Momente von Staatlichkeit, die von den germanischen Stammeskönigen (die ja oft Militärs in römischen Diensten gewesen waren) teilweise übernommen wurden: Römische Verwaltungsbezirke blieben, Infrastrukturen wie das Straßensystem (soweit es nicht verfiel), die Funktion der Bischöfe, teilweise sogar das Steuersystem. Aber die politische Macht lag weitgehend auf dem Land, das Ernährung bot. Sehr viel besser organisiert war in diesen Jahrhunderten das von Mohammed begründete islamische Reich, das seit dem 7. Jahrhundert mit überlegener militärischer und kultureller Kompetenz nach Europa expandierte. Es wies im Übrigen eine vergleichbare Verbindung von religiöser Kultur und politischer Institutionalisierung auf.

      Erste Momente der Staatlichkeit bildeten sich im früheren provinzialrömischen Bereich aus: Ober- und Mittelitalien (Langobarden, Ostgoten), Frankreich (Westgoten, Franken, Burgunder). „Germanische“ (mit aller Vorsicht des Begriffs) Völker gingen hier Verbindungen mit römischer Kultur ein, die im Wesentlichen aber nur kirchlich überliefert wurde. Die aktuelle Forschung konstatiert durchaus Ausprägungen von Staatlichkeit, die weiter entwickelt war als man das bisher angenommen hatte, die aber auch Auf- und Abschwünge erfuhr. Beispielsweise wird Karl der Große, der ein Großreich aufgebaut hatte, das sich


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