Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
der Sicht der Unterschichten und damit eher in seiner repressiven Seite, aber auch in seiner begrenzten Durchsetzungsfähigkeit ist der Staat seit den 1980er Jahren vor allem im Rahmen der alltagsgeschichtlich orientierten Sozialgeschichte untersucht worden; Alf Lüdtke ist hier in Deutschland sicher der einflussreichste Stichwortgeber gewesen.41 Die wichtigste Neuentwicklung der letzten Jahrzehnte dürfte sich allerdings dem Einfluss des französischen Philosophen Michel Foucault verdanken, der sich für Macht als eine Praxis interessiert hat, die in der Mikrodimension wirkt, und der in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Wissen als Machtressource betont hat. Ein wissensgeschichtlicher Zugriff auf die Geschichte des modernen Staates hat demgemäß vor allem danach gefragt, wie Staatlichkeit auf der zunehmenden Generierung von Wissen über Bürger und Territorium beruht hat, und hat sich demzufolge für die Geschichte der Statistik, von Gesundheitspolitik als Wissenspolitik, für Volkszählungen und Demoskopie interessiert.
Will man eine große Tendenz der Forschung resümieren, so lässt sich vielleicht sagen, dass inzwischen ein ungleich skeptischerer Blick auf den historischen Erfolg des Staats herrscht; das betrifft sowohl den Erfolg nach innen im Sinne einer erfolgreichen „Zurichtung“ der Bürger als auch den Erfolg nach außen im Sinne eines welthistorischen Modells. Zu vermerken ist aber auch der deutlich schärfere Blick auf den Staat als Gewaltorganisation, die stärker in Spannung zu den benevolenten Seiten des Staates gesetzt wird. Das hat wohl nicht nur mit neueren Entwicklungen wie der Konjunktur der Kolonial- oder Geschlechtergeschichte zu tun, sondern auch mit dem schlichten Umstand, dass nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die meisten Historiker den Krieg und den Machtstaat nicht mehr für einen unhintergehbaren historischen Fortschritt halten.
Dieses Buch versteht sich als eine einführende Synthese für Studierende und Forschende, die vor allem diesen einen Zweck verfolgt: den modernen Staat als ein historisches und zu historisierendes Phänomen zu untersuchen. Es bezieht sich auf Europa, weil hier dieses Phänomen entstanden und als „Zivilisationsmission“ – mehr oder minder erfolgreich – in die Welt hinausgetragen wurde. Dass dieses Unterfangen angesichts der thematischen und epochalen Breite, die in eklatantem Missverhältnis zum Umfang des Buches steht, nur in groben Strichen geschehen kann, wird hoffentlich auf Verständnis stoßen. Wer sich tiefergehend mit einzelnen Themen beschäftigt, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Viel einschlägige Forschungsliteratur und viele interessante, oftmals verwickelte Forschungsdiskussionen habe ich nicht genauer zur Kenntnis nehmen können, noch weniger davon konnte ich zitieren. Es wird auch deutlich, dass ein gewisser Schwerpunkt auf den größeren westeuropäischen Staaten liegt, häufig mit einem vergleichenden Blick nach den USA, weil hier das europäische Modell der Staatlichkeit eine sehr eigene Umsetzung gefunden hat. Weniger beachtet werden die europäischen Peripherien, vor allem Ost- und Südeuropa; zum Teil, weil sich hier meine Kompetenz in engen Grenzen bewegt, aber auch, weil Frankreich und Großbritannien für die Staatsbildung auch dort als Pioniere und Vorbilder fungiert haben. Deutschland erhält einen vielleicht unverdient wichtigen Platz zum einen, weil es wegen seiner föderalen Struktur eine Ausnahme, aber doch auch ein Vorbild und Exerzierfeld war; zum anderen, weil die reale und diskursive Tradition des Staates, seine historische Überhöhung hier die prägendsten Auswirkungen auf Denken und Schreiben der Geschichtswissenschaft hatte. Auch der Blick auf die Leserschaft dieses Buches legt einen deutschen Schwerpunkt nahe. Aus diesem Grund wurde auch darauf verzichtet, den Fußnotenapparat und die Bibliographie ausufern zu lassen, und es wurden nur deutsch- und englischsprachige Titel aufgenommen.
Wenn ein Neuzeithistoriker über die Geschichte des Staates schreiben und dabei bis in die Antike zurückgreifen will, dann kann er sich an eine solche Aufgabe nicht wagen ohne die großmütige Beratung und Kritik von kompetenten Kolleginnen und Kollegen, die den Text in Teilen oder ganz lasen und dabei hilfreiche Anmerkungen und Fehlerkorrekturen anbrachten. Ohne die Expertise von Christoph Lundgreen, Barbara Schlieben, Jörg Feuchter, Matthias Pohlig, Paul Nolte, Christian Jansen und Hartmut Kaelble hätte ich nicht gewagt, dieses Manuskript aus der Hand zu geben. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Aber natürlich geht alles, was sachlich falsch oder zu kritisieren ist, auf meine Rechnung.
Ein solches Buch schreibt sich nicht ohne Unterstützung. Unglaublich hilfreich und engagiert haben mir Charlotte Meiwes und Giulia Ross unter die Arme gegriffen: Sie haben aufopfernd Bücher ausgeliehen, PDFs organisiert, Hinweise auf Themen und Literatur gegeben sowie das Manuskript in eine abschließende Form zu bringen geholfen. Kai Pätzke und Oliver Schwinkendorf vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht darf ich für die gute und unkomplizierte Betreuung danken. Und schließlich ist Dank an meine Frau Ruth Rumke abzustatten für ihre Geduld und ihre Bereitschaft, dies zu ertragen. Versprochen: In den nächsten Urlaub kommt keine Bücherkiste mit – zumindest keine mit Staatsbüchern. ☺
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1Dank an Paul Nolte für diese Anregung.
2Als ein Überblick über die verzweigte Diskussion zu diesem Thema: Dipper, Moderne.
3Vgl. Peter Brandt u. a., Einleitung, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 23–34; Peter Brandt, Gesellschaft und Konstitutionalismus in Amerika 1815–1847, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 11–30; Peter Brandt, Gesellschaft und Konstitutionalismus in Amerika 1848–1870, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 3, 11–33.
4Zit. n. Dreier, Staat ohne Gott, 12.
5Zur Diskussion der ideengeschichtlichen Linien (schon mit deutlicher Skepsis gegenüber der emphatischen Ladung des Begriffs „modern“): Skalweit, Der ‚moderne Staat‘; Schieder, Wandlungen des Staats.
6Demandt, Antike Staatsformen.
7Vgl. Stefan Esders, „Staatlichkeit“, Governance und Recht im (westlichen) Mittelalter, in: Schuppert (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 77–100.
8So etwa Breuer, Der Staat.
9Vgl. die Begriffsdiskussion bei Wolfgang Reinhard, Einleitung: Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt, in: ders. (Hg.), 1350–1750, 18–20.
10Zum Folgenden: Boldt u. a., „Staat und Souveränität“.
11Friedeburg, Luthers Vermächtnis.
12Hierzu begriffsgeschichtlich Skinner, Genealogy of the Modern State.
13Evans u. a., Bringing the State Back In.
14Mit einem Schwerpunkt auf der politischen Theorie und konzentriert auf Frankreich und Deutschland in Abgrenzung zu Großbritannien: Dyson, The State Tradition in Western Europe, 186–196, 209 f.
15Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 10.
16Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Von Staat zu Staatlichkeit. Konturen einer zeitgemäßen Staatlichkeitswissenschaft, in: ders. (Hg.), Von Staat zu Staatlichkeit, 11–39.
17Zum Folgenden Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 394–396.
18Weber, Politik als Beruf, 506.
19Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg; Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt.
20Hierzu: Hans Boldt u. a., „Staat und Souveränität“, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1–154.
21Michael Bothe, Krieg im Völkerrecht, in: Beyrau, Formen des Kriegs, 469–478.
22Schmitt, Politische Theologie, 13.
23Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, 520–555.
24Die 1368 etablierte Ming-Dynastie gilt hier als Wasserscheide. Vgl. Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279–1949, München 20153. Zur Personalität der Kaiserherrschaft unter den Ming: Frederick W. Mote, Introduction, in: The Cambridge History of China, Bd. 7: The Ming Dynasty 1368– 1644, Part