Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel

Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne - Thomas Mergel


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Ebene lösen. Auch wenn diese Suprastaatlichkeit in den letzten Jahren in die Defensive geraten ist, stellt sie ein neues Moment von Staatlichkeit dar, das vielen Hoffnung macht (weil sie mit der Denationalisierung die Hoffnung auf Pazifizierung verbinden), anderen aber Angst (etwa weil sie um die Identifikationen oder auch um die Leistungen fürchten, die der Nationalstaat bieten kann). Das ist aber eine andere Staatlichkeit als diejenige, die wir kennen, weil sie nicht mehr durch einen allmächtigen Souverän gewährleistet wird, sondern prinzipiell vom guten Willen der Beteiligten, von Verträgen und Kooperation abhängig ist.

      Die moderne Geschichtswissenschaft ist parallel zum modernen Staat entstanden. Das hat Themen und Selbstverständnis des Faches tief geprägt. Allerdings kann man auch hier nationale Unterschiede feststellen. Christopher Bayly hat für die englischsprachige historiographische Tradition ein geflissentliches Übersehen des Staates konstatiert.31 Man wird nicht fehlgehen, wenn man einen Grund dafür in der anders gearteten Staatlichkeitsgeschichte findet, die sich auch begriffsgeschichtlich zeigt. Für die deutschen Historiker galt das nicht. Sie haben sich frühzeitig und ausgiebig am Staat abgearbeitet und ihre eigene Profession sehr an ihm gemessen.32 Die folgenden Bemerkungen beziehen sich deshalb vor allem auf die deutsche historiographische Tradition. Ein „Volk“ wurde in diesem Verständnis erst durch den Staat zu dem, was es war, und deshalb konnte es erst dann eine Geschichte haben, wenn es auch einen Staat hatte. Dahinter stand zunächst die ganz einfache quellenkritische Erkenntnis, dass Staaten Akten anlegen und Archive unterhalten – an andere Formen von Überlieferung dachte man damals nicht. Und ohne Akten keine Geschichte. Aber es stand auch eine (besonders in Deutschland wirksame) metaphysische Vorstellung dahinter, die der Historiker Heinrich von Sybel kurz nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs so formulierte: „Die Staatsgemeinschaft ist nicht eine willkürliche Erfindung der einzelnen Menschen, sondern sie ist die angeborene nothwendige Form jedes menschlichen Daseins“:33 Nur durch den Staat konnte sich Menschsein verwirklichen. Der Staat als höchste Form menschlicher Gemeinschaft und als Ziel der Weltgeschichte: Das war ein Gedanke des Philosophen Hegel. Der Althistoriker Eduard Meyer war sogar der Ansicht, dass der Staat logisch wie historisch älter als der Mensch sei. Und tatsächlich sprechen wir ja auch bei Bienen oder Termiten von „Staaten“: Ist der Staat nun älter als die Menschen oder übertragen wir damit nur, unangemessen, einen uns zentralen Begriff?

      So historisierend die Historiker des 19. Jahrhunderts auch alles als etwas „Gewordenes“ und insofern Historisches ansahen: Der Staat war für sie eine gleichsam unhistorische Größe; dass er sich entwickelte, war Ausdruck des menschlichen Fortschritts, und wer ihn nicht hatte, der war historisch weniger weit gekommen. Diese Verherrlichung des Staates schloss für viele (und beileibe nicht nur für deutsche) Historiker auch eine Apotheose der Nation ein, weil sich hier, so ihre Meinung, der Staat auf der höchsten Ebene verwirklichte, denn hier kam zusammen, was (scheinbar) zusammengehörte: Menschen gleicher Sprache und Kultur, die sich ein gemeinsames politisches Ziel setzten.

      Eine Historisierung des Staates durch die Geschichtswissenschaft kann man eigentlich erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts konstatieren. Max Weber und Otto Hintze begannen, nach der Entwicklung und der Eigenart des Staates zu fragen – beide in bemerkenswerter begrifflicher Übereinstimmung, indem sie den Staat als „Anstalt“, als „Betrieb“ und also abgelöst von der personalen Herrschaft der großen Männer fassten.34 Sie überprüften die Entwicklung der Bürokratie oder des Kriegswesens nicht nur auf ihre historische Entwicklung, sondern auch auf ihre europäischen Besonderheiten hin. Aber noch lange, bis nach dem Zweiten Weltkrieg, hielt sich die Verherrlichung des Staates „an sich“, den die häufig ausgemacht rechtsnationalen Historiker der Weimarer Republik gerne von der Staatsform absetzten: So konnten sie (Gerhard Ritter, Hans Rothfels oder Fritz Hartung, um nur einige zu nennen) an der Staatsidee festhalten und doch die Republik von Weimar ablehnen. Als positives Gegenbild wurde der preußische Staat des 18. und 19. Jahrhunderts gepriesen.

      Es waren ausgerechnet NS-affine Historiker, allen voran der Mediävist Otto Brunner, die diesen unhistorischen Staatsbegriff kritisch auf’s Korn nahmen. 1939 wandte Brunner sich dagegen, den modernen Staatsbegriff auf das Mittelalter anzuwenden.35 Er tat das zunächst aus völkischen Gesichtspunkten: Weil ein Staat immer nur die äußere Hülle einer Volksgemeinschaft sei, von der im Mittelalter noch nicht die Rede sein könne. Er führte stattdessen den Begriff der Herrschaft36 ein und verwies auf die für das Mittelalter zentrale personale Dimension von Herrschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen, die sich nicht mit der abstrakten Konstruktion von „Staat“ vertrage. Sein Argument ist seither prägend geworden für die Diskussion um den Staat in der Moderne: Für das Mittelalter sind andere Zugehörigkeiten kennzeichnend. „Herrschaft“, „Land“, „Gefolgschaft“ oder „Genossenschaft“ bilden Loyalitätsmuster im Personenverband, als den man eine mittelalterliche politische Gemeinschaft immer kennzeichnen muss. Brunners These, die eine verworrene Rezeptionsgeschichte durchlaufen hat, trug trotz der ideologischen Schieflage seines Autors dazu bei, den Staatsbegriff nach 1945 zu historisieren.

      Das geschah allerdings nur zögerlich. Denn einerseits waren nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die ohne die zerstörerische Kraft der Staatsmacht nicht zu denken sind, die Historiker lange Zeit sprachlos – sie sprachen nicht über das Versagen des Staates als historischer Kraft, sondern eher wie der Freiburger Historiker Gerhard Ritter über die „Dämonie der Macht“ und über die Staatsidee „als solche“. Die Vorherrschaft einer solchen Politikgeschichte hat dazu geführt, dass sich seit den 1960er Jahren eine Sozialgeschichte als Gegenbewegung herausbildete, die auf den Staatsbegriff weitgehend verzichtete und lieber von „politischer Herrschaft“ in einem soziologischen Sinn sprach. Und das in einer Zeit, in der eine enorme Ausweitung der Staatstätigkeit vonstattenging, der Sozial- wie der Interventionsstaat immer bedeutender wurde und (man vergisst das gerne) im Zeichen des Kalten Krieges auch der Kriegsstaat eine Konjunktur erlebte. Das Ende der Blockkonfrontation und die Wiedervereinigung, die ein Ansteigen der Staatstätigkeit und einen Wandel der internationalen Politik mit sich brachte, hat die Gewichte zwischen beiden Polen verschoben, weil nun eine Friedensdividende zu verteilen war und damit der Interventionsstaat eine neue Bedeutung erhielt, die man in den neoliberalen Konzeptionen der 1980er Jahre nicht erwartet hatte.

      Neuere Anregungen zur Beschäftigung mit der Geschichte von Staat und Staatlichkeit sind eher von außen gekommen. Die Historische Soziologie, die vor allem in den USA beheimatet ist und zu Modellbildungen neigt, hat sich seit jeher an den langen Prozessen der Staatsbildung interessiert gezeigt. Vor allem Charles Tilly war hier ein Anreger. Er hat seit den 1970er Jahren in international vergleichenden Längsschnittstudien zur Entstehung des Nationalstaats und zum Zusammenhang von Staat und Gewalt gearbeitet.37 Die Ausweitung der Perspektive über die Nationalgeschichte hinaus, die Öffnung zur Europäischen und zur Globalgeschichte hat es mit sich gebracht, dass der Staat der europäischen Moderne wieder neu auf die Agenda gekommen ist, dieses Mal aber weniger als ein Modell denn vielmehr als ein welthistorischer Sonderfall. Es verwundert nicht, dass vor allem aus der Geschichte der Frühen Neuzeit wichtige Impulse gekommen sind. Im angloamerikanischen Raum waren es vor allem die Geschichte von Empires und ihre Formen von Staatlichkeit, die das Interesse der Globalhistoriker geweckt haben.38 In der deutschen Geschichtswissenschaft ist auf Wolfgang Reinhard zu verweisen, der seine Forschungen zur Entstehung des Staates in der Frühen Neuzeit frühzeitig mit einem Interesse an Kolonial- und Dekolonisierungsgeschichte verbunden hat und dem die folgenden Ausführungen viel verdanken.39 In nationalgeschichtlicher Perspektive hat Pierre Rosanvallon die Geschichte des Staats in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert untersucht und dabei betont, dass „der Staat als solcher“, als allgemeiner Typus, verschwimmt, wenn wir nahe genug an unseren Gegenstand herantreten, dass wir es dann eigentlich immer mit Sonderwegen und eigenen Ausformungen zu tun haben.40 Dies gilt es in der Tat zu bedenken, und es wird im Folgenden immer wieder aufscheinen, dass „Staat“ in England, Frankreich oder Deutschland ein unterschiedliches Gesicht haben konnte. Allerdings wird immer eher mit Typologien als mit jeweils besonderen Fällen


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