Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
rel="nofollow" href="#ulink_e9a05318-4837-5a7c-8505-bcdee54e188d">Literaturhinweise
1. Staat als Problem der Moderne
Es geht im Folgenden um ein Phänomen, das alle immer und überall irgendwie betrifft, aber trotzdem – oder vielleicht deshalb – schwer benennbar ist. „Staat“ ist einer der Begriffe, die so alltäglich sind, dass man sie für naturgegeben zu halten geneigt ist: der römische Staat, der Staat der Maya, der Staat im Mittelalter. „Der Staat“ erscheint fast wie ein Individuum und manchmal benimmt er sich auch wie ein Mensch: Der Staat muss reagieren, er nimmt Steuern ein, er bedenkt bestimmte Gruppen (und meist ist „Vater Staat“ auch ein Mann – es geht eben um Herr-schaft1). Diese Anthropologisierung verweist nicht nur darauf, dass uns der Staat im Alltag sehr nah ist, sondern auch auf die Suggestion, er sei etwas Überzeitliches. Nun sind Historiker aber daran gewöhnt, dass die Dinge niemals so bleiben, wie sie sind, und dass alle Phänomene, die wir vor uns haben, historisch sind, sprich: dass sie irgendwann entstanden sind und deshalb auch irgendwann wieder enden werden. Unsere Wirtschafts- und Lebensformen sind historisch; das Verhältnis der Geschlechter ist wandelbar; sogar das Verhältnis zum eigenen Körper, Gefühle und Empfindungen haben eine Geschichte, wenn wir diese auch nicht leicht historisieren können.
Das ist beim Staat nicht anders. Auch er ist ein historisches Phänomen, das einen Anfang und vermutlich auch irgendwann ein Ende hat. Mit „Staat“ ist demgemäß nicht jede Art von politischer Herrschaft gemeint, sondern eine spezifische, zur Institution geronnene Ausprägung. Dieser Staat, so der Ausgangspunkt dieses Buches, ist eine Erscheinung der Moderne. Mit „Moderne“ ist dabei (sehr grob) die Epoche gemeint, die sich etwa in den letzten 500 Jahren entwickelte, die sich mit den atlantischen Revolutionen des späten 18. und den industriellen Revolutionen des 19. Jahrhunderts voll ausbildete (und seit ein paar Jahrzehnten womöglich an ein Ende kommt).2 Der Begriff bezieht sich, wie die Diskussionen der letzten Jahre heraus gestellt haben, vor allem auf den Westen, so dass man eigentlich von „westlicher Moderne“ sprechen müsste. Hier wurden viele politische, ökonomische, soziale Formen entwickelt, die – friedlich oder gewaltsam – über die Welt verbreitet wurden und dort passfähig waren oder nicht, die aber ihre Überwältigungskraft auch von der Suggestion ableiteten, als „moderne“ Institutionen seien sie „fortschrittlich“ und insofern besser als das Bisherige. Wenn wir von „modern“ sprechen, sprechen wir also zunächst nicht ohne Weiteres von der ganzen Welt, sondern von einer bestimmten Weltgegend und bestimmten Institutionen, die allerdings anderswo aufgenommen (oder aufgezwungen) wurden und die sich dort veränderten. Und wir sprechen von einer bestimmten Sicht auf die Welt und auf die eigene Gesellschaft. „Moderne“ ist auch eine Selbstbeschreibung, sich immer selbst als jeweils neu zu betrachten, der Vergangenheit und der Tradition den Status des „Vorbei“ zuzuweisen, sich ganz einer Gegenwart und einer Zukunft verpflichtet zu sehen.
Dass dieser moderne Westen von vielen, und zwar nicht nur von den „Modernen“ selbst, als vorbildhaft, als positive oder negative Folie gesehen wurde, ändert gleichwohl nichts daran, dass man sich vernünftigerweise, wenn man von „Moderne“ spricht, zunächst auf die Regionen bezieht, die sich selbst als „modern“ in diesem Sinne begriffen. Das waren Europa, sodann die transatlantischen, vor allem die nordamerikanischen Regionen, die sich seit der Frühen Neuzeit als eng mit Europa verbunden begriffen. Diese Zusammengehörigkeit war auch von den Zeitgenossen so empfunden worden, insbesondere im Zusammenhang mit der Amerikanischen Revolution, die als ein Fanal und Vorbild für das nun plötzlich „zurückgebliebene“ Europa erschien. Europäische politische Philosophen haben besonders dann intensiv nach den USA geschaut, wenn es um die Begründung und das Verstehen politischer Reformen, des Neuen generell ging.3
Die Form von politischer Herrschaft, die sich seither in diesen Regionen, ausgehend von Europa, entwickelte, unterscheidet sich in seiner gesamten Erscheinung – also nicht in einzelnen Momenten – ganz grundsätzlich von den Formen, die es davor und anderswo gab. Erst in der Moderne entstanden politische Gebilde, die, das ist zentral, auf Dauer gestellt waren, unabhängig davon, welche Person gerade herrschte; Gebilde, die ein klares, umgrenztes großes Territorium umfassten und hier für alle Bürger in gleichem Maße relevant zu sein beanspruchten, weniger romantisch ausgedrückt: die über alle gleichermaßen Herrschaft ausüben konnten. Gebilde, die in der Lage waren, die Ressourcen dieser Gesellschaften in solchem Umfang zu mobilisieren, dass sie lange Massenkriege führen konnten; die ihre Untertanen (die man zunehmend „Staatsbürger“ nannte) so weit disziplinieren konnten, dass diese dem Staat zum Zwecke der öffentlichen Sicherheit das Recht zur legitimen Gewaltausübung zuerkannten (jedenfalls im Prinzip), die Steuern zahlten (wenn auch viele dabei betrogen); die alle zur Schule gingen (jedenfalls die meisten) oder Wehrdienst ableisteten (zumindest die diensttauglichen jungen Männer); Menschen, die sich im Rahmen eines Rechts bewegten, das der Staat gesetzt hatte (wenn sie auch vielleicht der Meinung waren, dass „Gerechtigkeit“ auf einem ganz anderen Blatt stand als „Recht“).
Erst der Staat der Moderne konnte ökonomische Ressourcen entwickeln und steuern (ob in der liberalen, der sozialen Marktwirtschaft oder im Sozialismus), die so viel abwarfen, dass der Staat für diejenigen sorgte, die nicht selbst für sich sorgen konnten, dass er sich für die allgemeine Daseinsvorsorge zuständig erklärte und sich deshalb „Sozial-“ oder „Wohlfahrtsstaat“ nannte. Und erst im Staat der Moderne entwickelte sich auf großer Fläche eine Form der politischen Partizipation, die – historisch unerhört – im Prinzip allen (erwachsenen) Menschen Mitsprache bei der Steuerung des Gemeinwesens zuerkannte. Und das gilt nicht nur für westliche Demokratien oder sozialistische Konzepte, sondern auch für Diktaturen, die sich seit dem 19. Jahrhundert auf einen (wie auch immer unterstellten) Volkswillen berufen mussten, um Legitimität zu erlangen. Und auch die Monarchen waren mit der konstitutionellen Monarchie nicht mehr die absoluten Herrscher, die sie einmal waren. Selbst sie mussten zumindest reklamieren, für einen Volkswillen einzustehen und unter der Herrschaft einer Verfassung zu stehen.
Mit der Berufung auf einen Gesamtwillen fiel aber auch die Möglichkeit weg, den Staat in irgendeiner Weise religiös zu legitimieren. Die Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht, die sich seit dem Hochmittelalter konfliktreich entwickelte, führte mit dem 19. Jahrhundert zu einem säkularisierten Staat. Der moderne Staat ist, in den apokryphen Worten des Kirchenrechtlers Rudolf Sohm, „ein geborener Heide“.4 (Jedenfalls gilt das im Prinzip und wurde unterschiedlich weitgehend umgesetzt). Er beschnitt die religiösen Gemeinschaften in ihrem Einfluss auf das Leben der Menschen empfindlich und übernahm Bereiche wie die Schule oder die Dokumentationsleistungen für den Personenstand (Geburtsurkunde, Eheschließung usw.), die vorher weithin in kirchlicher Hand waren, in seine eigene Regie. Andererseits konnte und wollte der Staat (jedenfalls im Prinzip) den Menschen nicht mehr vorschreiben, an was sie zu glauben hatten: Die Glaubensfreiheit gehört unabdingbar zum modernen Staat; und sie war eine wichtige Wurzel der Gedanken-, also der Meinungsfreiheit.
Erst der Staat der Moderne war aber auch ökonomisch und militärisch in der Lage, systematisch andere Teile der Welt zu erkunden, zu erobern, Jahrzehnte oder Jahrhunderte unter Kontrolle zu halten und dabei so zu durchdringen, dass diese auch nach seinem Muster organisiert wurden. Der von Europa ausgehende neuzeitliche Kolonialismus war nur aus der Staatsbildung heraus denkbar; er hat sich immer auch als Zivilisierungsmission begriffen, und die Übertragung und Entwicklung der Staatlichkeit in den kolonisierten Regionen war für diese Mission zentral. Auch in Afrika, in Polynesien oder in Südamerika sollten nach dem Willen der Kolonialherren Staaten entstehen und wurde Staatlichkeit entwickelt (wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg und anderen Folgewirkungen).
Insofern ist der moderne Staat in seinen Formen und Strukturen ein Phänomen und ein Merkmal der Moderne. Dieses Ausgangspostulat wurde und wird nicht überall geteilt, und gerade in Deutschland, wo der Begriff des Staates eine besondere Schätzung genoss, gab es seit dem 19. Jahrhundert die geradezu kanonische Auffassung, dass der Staat