Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
Auch für das Mittelalter werden in neuerer Zeit Fragen der Staatlichkeit diskutiert.7 Die west- und südeuropäische Forschung benutzt in diesem Zusammenhang „estado“ oder „stato“ weitaus ungezwungener als die deutsche den Begriff „Staat“. Auch aus der politischen Anthropologie kommen Vorstellungen, „Staat“ als eine Herrschaftsform zu sehen, die die Bildung menschlicher Gemeinschaften seit sehr früher Zeit begleitet hat.8 Und die Globalgeschichte operiert für die großen asiatischen Reiche wie China oder Japan auch für die Zeit der (westlichen) Vormoderne oftmals recht zwanglos mit dem Staatsbegriff.9
In der Tat gibt es gute Gründe, all diesen politischen Ordnungen Momente von Staatlichkeit zu attestieren. Aber es ist eben etwas anderes, den Staatsbegriff in seinem vollen Bedeutungsumfang zu verwenden. Mit „Staatlichkeit“ ist das Bündel an Funktionen gemeint, das, treten sie zusammen auf, einen Staat ausmachen kann, die aber auch für sich oder schwächer ausgeprägt auftreten können. Dazu gehört etwa der Anstaltscharakter, dass also politische Herrschaft nicht mehr von einer Führungsperson abhängig ist; dazu gehören eine Finanzierung durch kontinuierliche Steuern, eine zentral gesteuerte Militärmacht, Gesetze mit Anspruch auf umfassende Geltung, eine Administration, die Aufgaben erfüllen und nicht nur Pfründner versorgen soll. Dazu gehört aber auch eine Einheitlichkeit der Herrschaft, die sich darin äußert, dass man nur diesem (einen) Staat verpflichtet oder unterworfen ist. Generell führt es nicht weit, in allen Gesellschaften mit Herrschaftsstrukturen einen Staat zu vermuten, denn dann kann man die Besonderheit dessen, was neu ist am modernen Staat, nicht mehr erkennen. Aber man kann diese Vor- und Außer-Geschichten nicht unterschlagen, wenn man verstehen will, was so neu und einzigartig am modernen Staat ist.
Dass wir es mit einem neuen Phänomen zu tun haben, erhellt auch aus der Selbstbezeichnung der modernen politischen Ordnungen. Denn erst in der Frühen Neuzeit hat sich der Begriff so herausgebildet, wie wir ihn kennen. Die Begriffsgeschichte kann dieser Selbstbeschreibung nachspüren.10 „Staat“ kommt aus dem Lateinischen „status“ (= „Zustand“, „Stand“) und wird in der Formulierung „status rei publicae“ (= der Zustand des Gemeinwesens) zu einem Begriff, der eine politische Verfasstheit beschreibt. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit meinte vor allem im außerdeutschen Sprachgebrauch „status“ auch ein Landgut, eine Besitzung (das englische Wort für Immobilien „real estate“ verweist darauf). Status war (wie die französische Fassung „état“) zunächst eine Bezeichnung für die mittelalterlichen Stände, die landgebunden waren und über Land verfügten: Ein König, den man John Lackland nannte (= Johann Ohneland 1166–1216: ein bösartiger Spottname. Eigentlich hieß der Mann Plantagenet), war deshalb kein legitimer König. Erst im 17. Jahrhundert bürgerte es sich in Deutschland ein, den Begriff Staat (oftmals auch noch „Stat“ ohne die deklinatorische Nachsilbe „us“ geschrieben) auch für die civitas oder die res publica, also für politische Gemeinschaften zu benutzen. Ein Beispiel sind die niederländischen „Generalstaaten“, d. h. die „Generalstände“, also eine Art Reichstag dieses Gebiets, das sich im 16. Jahrhundert vom Reich losgelöst hatte. Auch heute noch heißt das Parlament der Niederlande „Staten-Generaal“.
Das neue Modell politischer Herrschaft wurde also von neuen Begriffsbildungen begleitet – neue Semantiken verweisen darauf, dass die Welt sich mit den alten Worten nicht mehr adäquat beschreiben lässt. Das gilt schwerpunktmäßig für den deutschen und den romanischen Sprachraum. Für das Heilige Römische Reich hat Robert von Friedeburg argumentiert, dass sich mit „Staat“ schon früh eine institutionelle Vorstellung verband, die auch den Fürsten binden sollte und die mehr bedeutete als nur Sicherheit und Ordnung, sondern auch die „Gute Policey“ einschloss, also die Fürsorge für die Bürger und die aktive Sorge für eine gute Gesellschaft.11 Diese umfassende Bedeutung, die nach Friedeburg ein Lerneffekt aus den Katastrophenerfahrungen des Dreißigjährigen Krieges ist, findet sich im englischen Sprachraum nicht; hier hat der Begriff „state“ lange nicht die Prominenz gewonnen, die „Staat“, „état“ oder „estado“ hat.12 Ein möglicher Grund ist, dass sich in England das, was wir „Absolutismus“ nennen, nicht durchsetzen konnte, und man kann die (mehr oder weniger) absolute personale Herrschaft des Monarchen als ein Übergangsphänomen zur „absoluten Herrschaft“ des überpersönlichen Staates verstehen. Im Englischen wird man viel häufiger den Begriff „government“ finden, der viel breiter verstanden wird als im Deutschen „Regierung“, wenngleich im 20. Jahrhundert (und das heißt: mit der Ausweitung des Kriegs- und des Wohlfahrtsstaates) „state“ auch im englischen Sprachgebrauch gerade der Sozialwissenschaften wieder mehr in den Vordergrund gerückt ist, weil der Staat als autonomer Spieler in gesellschaftlichen Machtbeziehungen wieder ernster genommen werden soll.13 In der politischen Theorie war der Begriff aber anscheinend immer viel mehr im Gebrauch als in der praktischen Politik und im öffentlichen Diskurs.14 Die gewissermaßen metaphysische Bedeutung, die man vor allem in Deutschland dem Staat gab, fand sich sprachlich im Englischen nicht. Die andere Staatlichkeit der angelsächsischen Länder (auf die ich noch eingehen werde) drückt sich in einer anderen Semantik aus.
Natürlich lässt sich sofort einwenden: Die obige Beschreibung stimmt mit der Realität nur selten und niemals voll überein. Dem mag man nicht widersprechen. Die vielen einschränkenden Klammern, die hinter den obigen Aussagen stehen, deuten darauf. Dieses Modell des modernen Staates ist das, was Max Weber einen Idealtypus nennt: kein „Ideal“, sondern ein Konstrukt, das die einzelnen Merkmale im Dienste einer begrifflichen Reinheit steigert, um einen theoretischen Begriff davon zu gewinnen.15 Ein Idealtypus entwirft eine theoretische Vorstellung, um damit Erkenntnis über die Realität zu erhalten, und dies ist ein Verfahren, das wir auch im Alltag anwenden, um die Welt zu verstehen. Das geschieht in unserem Fall auf zweierlei Weise:
(1.) Einen Staat, der alle diese Merkmale voll ausgeprägt aufweist, gibt es selbstverständlich nicht; aber wir können die Frage, wie nahe dieser oder jener Staat dem Idealtypus des modernen Staates kommt, wie sehr er also „Staat“ in diesem Sinne ist, an einem solchen Idealtypus messen, können sozusagen die Abweichung in der Realität konstatieren. Solches passiert nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik: Wenn ein Staat nicht in der Lage ist, genügend Steuern einzutreiben, um seine Funktionen zu gewährleisten, oder wenn er die gesetzliche Ordnung nicht aufrechterhalten kann, dann attestieren wir ihm eine mangelhafte Staatlichkeit, und im Extremfall nennt man ihn einen „failed state“: Er kann seine Aufgaben nicht erfüllen. Insofern haben wir alle einen Idealtypus im Kopf, wenn wir „Staat“ sagen. Der seit den 1990er Jahren zunehmend beliebtere Begriff der Staatlichkeit meint, dass man unterschiedliche Erscheinungsformen und Intensitäten dieser Durchdringung der Gesellschaft mit Herrschaft empirisch beobachten kann. Besonders in der aktuellen Debatte um die Krise des Staates florieren solche Skalierungen.16 Sie zielen auf eine Relativierung des metaphysischen Begriffs von Staat, der die Diskussion über Jahrhunderte bestimmt hat.
(2.) Man kann aber einen solchen Idealtypus nicht nur von seinen verschiedenen Formen der Realisierung abgrenzen, sondern auch von anderen idealtypisch konstruierten Phänomenen: So können wir nicht nur beschreiben, was „Staat“ im Unterschied zu „Gesellschaft“ oder „Kirche“ ausmacht; sondern wir können auch in der begrifflichen Erfassung des Staates selbst feinere Unterscheidungen treffen; also etwa den Territorialstaat der Frühen Neuzeit (der Wert auf seine territoriale „Arrondierung“ legte) idealtypisch beschreiben und unterscheiden von Begriffen wie „Rechtsstaat“ (der nicht notwendig demokratisch sein musste, sich aber auf ein neutrales Recht stützte), wir können den (polemisch gemeinten, aber dennoch idealtypisch konstruierten) Begriff des liberalen Nachtwächterstaates des 19. Jahrhunderts vom Interventions- oder vom Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts abgrenzen, der die Daseinsvorsorge für die ihm zugehörigen Menschen als eine wichtige Aufgabe erkennt. All diese Begriffe sind Idealtypen, die uns erlauben, bestimmte Merkmale besonders zu betonen und zu beachten.
Idealtypen haben mithin eine doppelte Funktion: Erstens erlauben sie, die Abweichung der festgestellten Realität von der „Idee“ festzustellen, und damit