Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
the Move. Christopher Bayly verweist auf hybride Staatsformen, die dabei entstanden: Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 317–321.
26Reinhard, Verstaatlichung der Welt; Osterhammel, Verwandlung der Welt, 818–906.
27Aloys Winterling, Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte, in: Karl-Joachim Hölkeskamp u. a. (Hg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, 403–419; Paul Nolte, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte. Umrisse einer Ideengeschichte der modernen Gesellschaft, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, 275–298.
28Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 312.
29Dirk van Laak, Infrastruktur, in: Voigt, Handbuch Staat, 1019–1027.
30Vgl. Anter, Webers Theorie des modernen Staates, 227 f.
31Bayly, Die Geburt der modernen Welt, 306–309.
32Im Weiteren folge ich Metzler, Der Staat der Historiker. Außerdem, mit Konzentration auf die Frühneuzeitforschung: Martin P. Schennach, Frühmoderne Staatlichkeit, in: Schuppert, Von Staat zu Staatlichkeit, 41–76.
33Zit. n. Metzler, Der Staat der Historiker, 20.
34Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 815–868; Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats, in: ders., Staat und Verfassung, 470–496.
35Otto Brunner, Land und Herrschaft.
36Den er allerdings anders verwendete, als ich es hier tue – ich spreche in diesem Fall immer von Legitimität, so wie Max Weber den Begriff verstanden hat: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 124 f. Es geht also immer um die Umstrittenheit oder die Akzeptanz der Herrschaft. Brunner sprach von einer „konkreten Ordnung“, in anderen Worten: Hierarchie war ein immer geltendes, quasi „natürliches“ Prinzip.
37Vgl. v. a.: Tilly, The Formation of National States.
38Bayly, Die Geburt der modernen Welt; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Maier, Leviathan 2.0.
39Reinhard, Staatsgewalt.
40Rosanvallon, Der Staat in Frankreich.
41So z. B. Lüdtke, „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“.
1. Antike Staatlichkeit und Entstaatlichung im Mittelalter
Historiker konstruieren gerne Kontinuitäten. Die Vorstellung von Brüchen ist ihnen eher fremd. Aber nicht nur, wenn wir den modernen Staat ansehen, müssen wir konstatieren, dass hier die Nähen zur Antike sehr viel auffälliger sind als zum Mittelalter. Die Historiker des 19. Jahrhunderts haben diese Geschichte eher als eine mehr oder weniger lineare Entwicklung gesehen. Die neuere Forschung betont zum einen die größere Nähe von Antike und Moderne; der berühmte Althistoriker Christian Meier war hier Vorreiter. Meier war es aber auch, der vor einer „leichtfertigen Übertragung des Staatsbegriffs auf die Antike“ warnte. Denn dabei würden Vorstellungen aus der Moderne in die Antike projiziert, die dort nicht hingehörten.1 Andere wie Christoph Lundgreen dagegen vertreten die Anwendbarkeit solcher Begriffe als analytische Konzepte. Er insbesondere ist der Ansicht, dass „Staatlichkeit“ den starren Begriff des Staates ersetzen könnte.2 Festzuhalten bleibt die Einigkeit der verschiedenen Positionen: Die Wurzeln des modernen Staates liegen in Griechenland und in Rom – wenngleich man protostaatliche Momente auch in vorderasiatischen Monarchien oder in den phönizischen Handelsstädten der Levante ausmachen kann.
Etwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden in der kleinräumlichen, küstennahen Landschaft Griechenlands poleis, Stadtstaaten, die sich zu Stadtrepubliken entwickelten. Sie stützten sich auf eine Schicht freier Bürger (polites), für die das Recht auf Mitbestimmung in der periodisch (in Athen bis zu vierzigmal im Jahr) tagenden Volksversammlung, auf die Besetzung von periodischen Wahlämtern und der Rechtsprechung mit der Pflicht zum Kriegsdienst einhergingen. Die wohlhabenden Bürger hatten sich finanziell oder mit Dienstleistungen an Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen. Für diese öffentliche Tätigkeit brauchten sie Zeit: Sie mussten abkömmlich sein, und das konnten sie nur, weil der Lebensunterhalt von Sklaven erwirtschaftet wurde: Die Bürgerfreiheit der Polis war die einer kleinen Minderheit. In unterschiedlichen Ausformungen, von denen uns die athenische Demokratie die bekannteste – allerdings auch die radikalste – ist, entwickelte die Polis eine „urbane Territorialstaatlichkeit“ (Stefan Breuer), die im Inneren relativ gewaltfrei war, weil der Wettbewerb um Macht rechtlich eingehegt war, man die Mitbewerber also nicht einfach totschlagen konnte; eine Staatlichkeit mit dauerhaften Formen der Entscheidungsfindung und der Administration sowie – das war ganz neu – einer Form der breiten Partizipation, die seit dem 5. Jahrhundert mit dem Begriff der Demokratie belegt wurde.3 Die Amtsinhaber agierten im Wesentlichen ehrenamtlich; die Spitzenpositionen wurden hauptsächlich durch Los (unter der Annahme, dass alle Bürger gleich und gleich befähigt seien), aber auch durch die Wahl besetzt.4 Sie mussten sich um dieses Amt bewerben, was eine gewaltfreie Form des Wettbewerbs und die rhetorische Ansprache an die Bürger, also den öffentlichen Diskurs über politische Fragen beförderte. Sie mussten sich für ihr Tun verantworten, bis dahin, dass sie von der Volksversammlung in die Verbannung geschickt wurden, wenn man der Ansicht war, sie hätten gegen ihre Pflichten verstoßen. Durch diese Formen der wettbewerblichen Politik gelang es, der Usurpation der Macht durch kleine oligarchische Eliten einen Riegel vorzuschieben: Während in anderen Gesellschaften einzelne und ihre Familien herrschten (und zwar meist gestützt auf nackte Gewalt), war es in der griechischen Polis die Schicht der bevorrechteten Stadtbürger, und deren Herrschaft wurde im Wesentlichen für legitim gehalten.
Die griechische Polis, die auch nach Kleinasien und Sizilien exportiert wurde, hat in der Rezeption und Mythenbildung der westlich-europäischen Tradition den Status einer „Zauberformel“ (Lundgreen) erhalten; demgemäß ist der Begriff kritisiert worden.5 Abgesehen von der Vielzahl von politischen Mitbestimmungsformen, die sich dahinter verbergen, ist häufig Athen, das in mancherlei Hinsicht wohl eher eine Ausnahme war, als pars pro toto für die Polis gesetzt worden. Darüber hinaus ist die oben gegebene Schilderung bei genauerer Beschreibung auch für Athen differenzierungswürdig. So etwa war die Grenze zwischen freien Vollbürgern und mit minderen Rechten ausgestatteten Einwohnern, gar den Sklaven nicht immer trennscharf. Unter Perikles etwa wurden 457 v. Chr. Diäten für die ärmeren Vollbürger eingeführt, damit sie an den politischen Veranstaltungen teilnehmen konnten, ohne sich um ihren Unterhalt zu sorgen. Die Bürger waren also nicht alle so wohlhabend, wie man sich das denken würde.
Dennoch ist festzuhalten, dass sich in den griechischen Städten erstmals eine neue Form der politischen Integration vollzogen hat, in den Worten Uwe Walters „sicher kein Moderner Staat, aber ebenso sicher ein sehr moderner Staat“.6 Mehr noch: Speziell in Athen haben sich Mitbestimmungsformen entwickelt, die zwar nur einer relativ kleinen Schicht von Bürgern zugutekamen, die aber als historische Vorbilder bis in die Moderne gewirkt haben. Allerdings funktionierte diese Form von Staatlichkeit auf der Basis von relativ kleinen Gesellschaften. Die Polis war eine face-to-face-Veranstaltung: Die Bürger kannten sich persönlich, wussten um ihre Bindungen und Traditionen und konnten somit eine Zusammengehörigkeit aufbauen, die auf persönlichen Beziehungen beruhte. Platon dachte sich sein Konzept eines „Idealstaats“ als eine kleine Gemeinschaft mit nicht mehr als 5040 Vollbürgern. Als aber im 5. Jahrhundert Athen über die eigentliche Stadt hinauswuchs und sich über ganz Attika ausdehnte, umfasste die athenische Polis vielleicht 30–40.000 Vollbürger – Platon hätte ihr die Funktionsfähigkeit abgesprochen.
Die griechische Polis und vor allem Athen hat nicht nur Institutionen hervorgebracht, die die moderne Staatlichkeit schon in nuce aufwiesen. Sie hat vor allem eine Selbstbeobachtung und Selbstreflexion