Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne. Thomas Mergel
und erhoben Ansprüche auf den Thron, hatten aber sehr unterschiedliche Vorstellungen von der religiösen Gestalt des Reichs. Die dritte, radikal protestantische Fraktion der Puritaner, Calvinisten, Presbyterianer oder Kongregationalisten war im niederen Adel stark vertreten; sie lehnte generell eine staatskirchliche Disziplinierung der Religion ab, war aber aggressiv antikatholisch.
Diese Typisierung bezeichnet die Unterschiede indes überscharf: Jakob I. (1603– 1625), der Sohn der von Elisabeth I. hingerichteten katholischen Maria Stuart, ihrer Cousine, war calvinistisch erzogen, bekannte sich aber nach der Thronbesteigung zum Anglikanismus und betrieb eine intolerante Politik gegenüber den Calvinisten; wegen dieser Politik stachen 1620 die „Pilgrim Fathers“ mit der Mayflower in See, um in Amerika ein Gottesreich zu errichten. Jedoch war er ein Verfechter des Gottesgnadentums und sah sich nur Gott und keinem Parlament gegenüber verantwortlich. Und das war wichtiger. Sein Sohn Karl I. (1625–1649) gerierte sich noch absolutistischer. Er löste das Parlament auf, weil es ihm Steuern verweigerte, und er hielt sich nicht an Abreden, die seine finanziellen Forderungen von der Zustimmung durch das Parlament abhängig machten. Viele in England hatten den Eindruck, dass er den „Papismus“ (ein Schimpfwort für den Katholizismus) wieder einführen wolle. Ein königlicher Putschversuch gegen das Parlament 1642 war Auslöser für den Bürgerkrieg, in dem das presbyterianisch dominierte Parlament auf Betreiben seines Abgeordneten, des Reitergenerals Oliver Cromwell, eine eigene Armee (die New Model Army) gegen den König aufstellte. 1647 geriet Karl I. in die Gewalt des Parlaments und 1649 wurde er nach einem umstrittenen parlamentarischen Prozess hingerichtet. Ein Schaudern lief durch Europa: Ein Land richtet seinen eigenen König hin! Dass man Könige ermordete, war an der Tagesordnung, gerade in England. Dass aber die Institutionen ihrem gottgesandten König den Prozess machen und ihn wie einen gewöhnlichen Dieb öffentlich hinrichten: Das war ein Sakrileg. Die Tat wurde als Revolution wahrgenommen (und deshalb heißt diese Zeit auch bis heute die „Englische Revolution“, auch wenn Historiker diesen Begriff zurückhaltend gebrauchen) und hatte Auswirkungen bis in die Französische und die Russische Revolution, wo man auch den Monarchen glaubte töten zu müssen, um eine neue Zeit anbrechen zu lassen.
1653 löste die religiös-utopische Militärdiktatur unter Cromwell eine kurzlebige, von ihm selbst ins Leben gerufene Republik ab: „the rule of the saints“. Das Staatswesen hieß jetzt „Commonwealth of England“. Cromwell, der sich eigentlich als Republikaner verstand und die Königswürde für sich ablehnte, sich nur „Lord Protector“ (der Titel für den Vormund unmündiger Könige) nennen ließ, befriedete nicht nur das Land, sondern er führte auch einen brutalen Kolonialkrieg gegen das katholische Irland. Nach seinem Tod wurde 1660 unter Karl II., dem Sohn Karls I., die Monarchie wiederhergestellt. Diese Restoration ging so weit, dass Cromwell exhumiert und posthum enthauptet wurde. Karl II. hatte wie sein Vater absolutistische Ambitionen und stieß auf Widerstände in einem Parlament, das man sich aber keineswegs als einheitlich vorstellen darf, sondern das auch Schauplatz des Machtkampfs verschiedener Fraktionen war. Ein Mordkomplott gegen den König wurde 1683 aufgedeckt, oppositionelle Politiker hingerichtet.
Konfessionelle Argumente wurden in diesen Auseinandersetzungen immer wieder vorgebracht; aber die Konfession war eher Ausdruck der Zugehörigkeit zu einzelnen Adelscliquen und dem Bekenntnis zu einer gewissen Staatspolitik. Es ging hauptsächlich darum, wie viel Macht man dem König gegenüber dem Adel, den Städten und den Kircheneliten zugestehen wollte. „Katholisch“ bedeutete im Verständnis der englischen Zeitgenossen das Bekenntnis zu Absolutismus und gegen protestantische Glaubensfreiheit. Karl II. selbst war Anglikaner und betrieb eher eine Politik der konfessionellen Toleranz, was aber eben auch eine Aufwertung des Katholizismus bedeutete. Als er 1685 plötzlich starb (auf dem Totenbett trat er dann doch zum Katholizismus über) und keine Nachkommen hinterließ, wurde sein jüngerer Bruder Jakob II., der wiederum Katholik war, König; auch er versuchte eine absolute monarchische Herrschaft einzuführen und wollte sich dabei auf die katholische Kirche stützen, suchte aber einen Modus Vivendi mit der puritanischen Fraktion, was den anglikanischen Eliten ein Dorn im Auge war. Als Jakob dann aber sieben anglikanische Bischöfe in den Tower sperren ließ, weil sie sich seiner Politik verweigerten, unternahm im Benehmen mit einflussreichen Gruppen des Parlaments Jakobs Neffe und Schwiegersohn Wilhelm von Oranien, der calvinistische politische Führer („Statthalter“) der Republik der Vereinigten Niederlande, 1688 eine Invasion und übernahm in kurzer Zeit die Macht. Das wurde zeitgenössisch und von der englischen Vergangenheitspolitik die Glorious Revolution genannt. Wilhelms Preis dafür war, die Macht mit dem Parlament zu teilen: Er gestand ihm zu, es mindestens alle drei Jahre einzuberufen; das Parlament erhielt das Recht der Steuerbewilligung. Das war neu. Von da an gab es keinen „von Gottes Gnaden“ herrschenden König mehr in Großbritannien, sondern der König regierte als der „King in Parliament“: nicht mehr als absolutistischer Herrscher, sondern im Benehmen mit den wichtigen Machtgruppen, die sich in den beiden Häusern des Parlaments versammelten. Wilhelm gestand die Unabhängigkeit der Gerichte zu, schuf die Zensur ab, verfügte in der Bill of Rights das erste, weltweit vorbildhafte Gesetz zum Schutz der Parlamentsrechte, und: Er legte eine Erbfolge fest, die nur Protestanten zuließ. Ein Katholik kann seither nicht mehr englischer König werden. Der langfristige Effekt der englischen Bürgerkriege war also die Entstehung einer konstitutionellen Monarchie mit festgelegten bürgerlichen und Parlamentsrechten. Damit war ein Alternativmodell zu dem geschaffen, was auf dem Kontinent „Absolutismus“ heißen sollte: Die politische Herrschaft musste sich auf Kooperation einlassen, der Staat wurde eher als ein Konglomerat von Interessen und Beteiligten gesehen – und der König war im Grunde nur mehr ein Angestellter seines Staates; allerdings unkündbar.
Die Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich und europäischen Mächten reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Das 16. und 17. Jahrhundert bezeichnet die intensivste Phase. Seit der Eroberung der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, Konstantinopel (und ihrer alltagssprachlichen Umbenennung in „Istanbul“ – noch bis 1930 war der offizielle Name „Konstantinopel“!) (1453), expandierte das Osmanische Reich auf den Balkan Richtung Mitteleuropa. Zunächst stand es vor allem im Konflikt mit der Seemacht Venedig, bald aber auch mit Österreich, dessen Herrscher gleichzeitig Kaiser des Reichs war, später mit Russland, aber auch mit dem Königreich Polen, das im 17. Jahrhundert fast bis an das Schwarze Meer reichte. Diese Kriege zogen sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hin; gezählt werden bis zur Französischen Revolution allein sechs venezianische, acht österreichische und neun russische Türkenkriege. Zweimal belagerten die Osmanen Wien und bedrohten Mitteleuropa, was zu Endzeitpaniken führte.24
Das war Teil der europäischen Kriegsgeschichte und nicht, wie die Legende sagt, eines Abwehrkampfs des christlichen Europas gegen die von außen kommende islamische Invasion. Häufig war z. B. Frankreich mit dem Osmanischen Reich verbündet, um den Gegner, das Reich und Habsburg, zu schwächen. Auch viele Soldaten in den osmanischen Heeren waren keine Muslime. Aber die „Türkengefahr“ wurde zeitgenössisch als eine existenzielle Bedrohung des christlichen Europa begriffen, und Erinnerungen an die arabische Eroberung der Iberischen Halbinsel wurden konstant neu aufgerufen. Über lange Zeit konnte das Osmanische Reich weite Teile Südosteuropas zum Teil seines Imperiums machen (Griechenland blieb bis 1829 Teil des Osmanischen Reichs). Die ständige Kriegsgefahr nötigte den Kaiser, bei seinen Reichsständen um Unterstützung zu bitten, was ihn im Reich schwächte und zu Zugeständnissen nötigte. Gleichzeitig aber fungierte das gemeinsame Feind- und Schreckbild des „Türken“ als ein negatives Integrationsmoment, das die (christliche) Reichs- und die Kaiseridee im gespaltenen Reich (und vielleicht auch darüber hinaus) stärkte. In Südosteuropa konnte sich keine stabile Staatlichkeit herausbilden, weil die Region immer Teil eines Imperiums und Spielball der beteiligten Mächte war, sei es des Osmanischen, des Russischen oder des Habsburgerreichs. Eine weitere Folge, bezogen auf (Mittel-)Europa und das Reich war, dass die Vormacht Österreich sich weniger auf Nationalstaatlichkeit, sondern auf die Entwicklung eines Imperiums konzentrierte, dafür enorme militärische Kapazitäten aufbaute und zur europäischen Großmacht aufstieg. Als im 19. Jahrhundert ein deutscher Nationalstaat auf der Agenda stand, war das Reich der Habsburger zum größeren Teil