Lipstick Traces. Greil Marcus
unter einer seltsamen Trägheit, einem Zögern, man geht auf Nummer Sicher. Dann wechselt man die Platte und hört sich »Johnny B. Goode« an, wie es seit 1958 im Radio gespielt wird: Die Noten und Akkorde sind zu einem Fakt geworden, der alle Fußnoten obsolet macht. Sie treffen ins Schwarze.
Man kann sich auch das Doppelalbum The Great Rock ’n’ Roll Swindle anhören, eine Dokumentation von Aufstieg und Fall der Sex Pistols, von Malcolm McLaren orchestriert, um zu beweisen, dass die von ihm und der Band durchlebten hektischen Abenteuer zu einem Plan gehörten, den er schon lange vorher in der Schublade hatte. Diese Sammlung von Fußnoten will die Idee vermitteln, dass die Geschichte der Sex Pistols, dieser runtergewürgte Brocken gesellschaftlichen Lebens im Hals eines sich Antichrist nennenden gekrümmten Burschen, von Anfang an als bloßer Bluff geplant war, als McLarens kleiner Scherz auf Kosten der Welt. Wenn es Johnny Rotten wirklich ernst war, als er in »God Save the Queen« »We really mean it, man!« schimpfte, ging der Scherz auf seine Kosten oder auf die von jedem, der ihm Glauben schenkte.
Der Versuch ist nicht übel. Das 1979, ein Jahr nach dem Ende der Sex Pistols, veröffentlichte The Great Rock ’n’ Roll Swindle enthält eine schwerfällige »God Save the Queen Symphony« mit albernen verbindenden Texten, diversen deprimierenden Post-Sex-Pistols-Ergüssen des bald verblichenen Sid Vicious, ein im Stil von Michel Legrand arrangiertes und von einer Person namens Jerzimy ausschließlich französisch gesungenes »Anarchy in the U.K.«, und ein Medley aus Pistols-Hits von einer ausgelassenen Discogruppe. Das französische »Anarchy« wie die Disco-Nummern sind recht ansprechend: Auf die Idee, »Pretty Vacant« als Fahrstuhlmusik zu vertonen, muss man erst mal kommen. Doch McLarens Versuch, die Sex Pistols als Schwindel zu entlarven (das Geheimnis im Herzen der Geheimgesellschaft entpuppt sich als endlose, bemüht witzige Geschichte), scheitert an einigen echten Sex-Pistols-Stücken auf dem Doppelalbum: »Belsen Was a Gas« von ihrem letzten Auftritt in San Francisco, eine heisere Alternativfassung von »Anarchy«, Cover-Versionen des Who-Titels »Substitute« und des Stücks »Stepping Stone« von den Monkees sowie eine Kombination von »Johnny B. Goode« und Jonathan Richmans »Roadrunner«. Die letzte Nummer klingt wie eine Probe – nicht für eine Plattenaufnahme oder ein Konzert, sondern für die Idee der Sex Pistols an sich. Man hört, wie sie auf die primitivste Rock ’n’ Roll-Stimme zurückgreifen, um die geschniegelte Selbstparodie zu zerstören, zu der man Rock ’n’ Roll gemacht hatte. Gleichzeitig hört man, wie sie die Musik ganz neu erfinden.
»›SEX PISTOLS‹ hieß für mich so viel wie eine Pistole, ein Pin-up, ein junges Ding. Ein besser aussehender Attentäter.«
Malcolm McLaren, 1988
Die Band steigt in »Johnny B. Goode« ein, aber Johnny Rotten kennt den Text nicht oder will ihn nicht singen; nach »Deep-down-in-Lweezeeanna« bringt er bloß noch Krächzen, Spucken und Quietschen zustande. »O fuck, es ist scheußlich«, stöhnt er, doch die Musiker lassen nicht locker und übernehmen den Song. »Ich hasse solche Songs«, verkündet Rotten. »Hört auf, hört auf! Das ist Folter!« Da die Band nicht abbricht, brüllt er sie schließlich nieder: »AAAAAAAAAAAAAH!« Sie werden langsamer. »Können wir nicht was anderes machen?« fragt er hoffnungsvoll, und dann dringt »Roadrunner« aus seinen Synapsen. Die Assoziation stimmt: »Johnny B. Goode« wie »Roadrunner« sind elementare Rock-Statements, ersteres ein Mythos der Rock-Gründerzeit, die Geschichte eines Jungen vom Lande, dessen Gitarrenspiel wie Glockenläuten klang, letzteres hauptsächlich ein Bericht darüber, wie man ihm beim Gitarrespielen zuhörte, wie gut man sich dabei fühlte.
Die Band schafft den winzigen Sprung zu dem zweiten Song, und Rotten verfällt in Panik. »Ich kenn den Text nicht«, sagt er. »Ich weiß nicht, wie er anfängt, ich hab’s vergessen!« Seine Stimme klingt so müde und verlegen, dass man Angst hat, er würde aus dem Studio rennen. »Hört auf, hört auf«, schreit Rotten erneut. Ein halbstarker Zynismus kämpft gegen die Verzweiflung in seiner Stimme an und verliert, die Band hat nicht eine Sekunde lang pausiert, er unternimmt einen letzten Versuch: »Wie heißt die erste Zeile?« Und so ruft Drummer Paul Cook, Jonathan Richman zitierend, was letzterer mit achtzehn Jahren, nämlich 1969 in Boston, geschrieben hatte: »One, two, three, four, five, six.« So lautet die erste Zeile von »Roadrunner«. Mit den Worten im Kopf, noch nicht »Anarchy« oder »Antichrist«, bloß ein Junge, der aus alten Akkorden neue Kultur macht, legt Johnny Rotten los.
WIE RICHMAN
ihn schließlich aufnahm, war »Roadrunner« der simpelste und der merkwürdigste Song der Welt. Richman trat um 1970 in Erscheinung, wie jemand, der einem nie und nimmer auffiele, wenn er nicht zufällig auf der Bühne stünde und einen zum Zuschauen brächte; er griff traditionelle Themen auf (Autos, Mädchen, das Radio), aber mit Anklängen eines aktuellen alltäglichen Realismus, der das Traditionelle seltsam erscheinen ließ. Er sang darüber, wie man an einem Bankschalter Schlange stand und sich in die Kassiererin verliebte (oder vielleicht tat sie einem nur leid, man versuchte zu entscheiden, ob man lieber die Kassiererin wäre oder derjenige, der darauf wartete, dass sie aufschaute und nicht sah, wen sie ansah). Er sang darüber, dass er Hippies hasste, weil sie Einstellungen wie Sonnenbrillen trugen, so komplett in ihrer Selbstgefälligkeit, so komplett, dass sie nie irgendwas bemerkten, weil sie sich von allem lossagten, was an der modernen Welt gut und lebendig und wunderbar war.
Ganz normal klang Richmans Musik nicht. Als ich 1972 zu einem seiner Konzerte ging, war seine Band – die Modern Lovers, so nennt er alle seine Bands – schon auf der Bühne; nichts geschah. Aus irgendeinem Grund fiel mir ein untersetzter kurzhaariger Bursche auf, der sich durch das spärliche Publikum schob, in Blue jeans und einem weißen T-Shirt, auf dem mit Bleistift die Worte geschrieben standen: »I LOVE MY LIFE«. Dann kletterte er auf die Bühne und spielte die erschütterndste Gitarre, die ich je gehört hatte. »Ich glaube, das ist großartig«, sagte einer neben mir. »Oder ist es schrecklich?»
»Ich fing erst an zu singen und zu spielen, als ich fünfzehn war und die Velvet Underground hörte«, sagte Richman Jahre später. »Sie schufen eine Atmosphäre, und damals wusste ich, dass mir das auch gelingen könnte!« Er bekam Unterstützung: Richman unterschrieb bei Warner Bros., die als Produzenten John Cale unter Vertrag genommen hatten, und Cale bekam den Auftrag, Jonathan Richman zu produzieren – Adam ging mit Gott ins Studio.
Das von ihnen hergestellte Album wurde nicht veröffentlicht, und die Band löste sich auf. »Roadrunner« war nur ein Gerücht, bis Richman 1975 ein paar Modern Lovers in Berkeley versammelte und den Song ein letztes Mal aufnahm; das Stück erblickte auf einem ansonsten belanglosen Sampler lokaler Bands das Licht der Welt, und von dem Augenblick an war es ein Klassiker. Nichts hätte bescheidener sein können: am Anfang lediglich Bass, Snare Drum und Gitarrengeschrammel, was sich wie das Stimmen der Instrumente auf einer Platte von Sun Records aus dem Jahr 1954, kombiniert mit einem Velvet-Underground-Demo von 1967, anhörte. Wie Rod Stewarts »Every Picture Tells a Story« – ein Ausbruch, den größten Teil seiner sieben Minuten nicht mehr als Drums, Bass und akustische Gitarre – erzählte »Roadrunner«, die Kraft des Rock ’n’ Roll liege einzig in seinen Sprüngen von einem Augenblick zum nächsten, in den unmöglichen Übergängen.
»One, two, three, four, five, six.« One-two / One-two-three-four lautet der traditionelle Rock-Anfang; 1976 und 1977, als Punk loslegte, wurde ein trockenes »One-two-three-four« zum Punk-Markenzeichen. Dass Punk das einleitende »One-two« ablehnte, bedeutete, dass Punk bereit war, jedes Vorgeplänkel, jede Geschichte über Bord zu werfen; wenn Richman »five-six« hinzufügte, bedeutete es, dass er noch nicht soweit war, dass er tief durchatmete, sich auf eine Attacke vorbereitete, wie sie noch keiner durchgeführt hatte.
»Roadrunner, roadrunner / Going faster miles an hour / Gonna drive by the Stop ’n’ Shop / With the radio on.« Vor Freude, ein Halbwüchsiger, der an der Erinnerung an den vergangenen Tag fast erstickte, machte sich Richman daran, den Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Er fuhr zwar am Stop ’n’ Shop vorbei, doch um ganz sicherzugehen, ging er zuerst am Stop ’n’ Shop vorbei, wobei er zu dem Schluss kam, dass er viel lieber am Stop ’n’ Shop vorbeifuhr, als am Stop ’n’ Shop vorbeizugehen, weil er ersteres mit eingeschaltetem Radio tun konnte.
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