Lipstick Traces. Greil Marcus

Lipstick Traces - Greil Marcus


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wonach man suchte, was man schätzte und ablehnte, etwas, das man hasste, das man liebte. Rock ’n’ Roll machte wieder Spaß.

       AUS GRÜNDEN,

      die die zwei oder drei oder zehn nicht anders als in Songs oder Tiraden (von denen zunächst alle aus einem Interview oder Song der Sex Pistols stammten) artikulieren konnten, drehte sich nun alles um Hässlichkeit, Böses und Abstoßendes, um Widerwillen, Unterdrückung und Unterjochung, um Sex, Liebe, Familie, Erziehung, Popmusik, das Starsystem, Regierung, Gitarrensoli, Arbeit, Sozialhilfe, Einkaufen, Straßenverkehr, Werbung – und alles gehörte zusammen. Der schwachsinnige Werbespot im Radio, den man zu oft am Tag hörte, passte in ein Gesamtbild: Irgendwie begriff man, um diesen Jingle loszuwerden, musste man den Rundfunk verändern, was bedeutete, die Gesellschaft zu verändern. Das Gesamtbild zerfiel wieder in Fragmente: Genug Massenmörderinnen wie Myra Hindley, so stellte man sich in einem Lappen der rechten Hirnhälfte vor, der nichts von Sprache wusste, aber alles darüber, was Sprache nicht sagen konnte, und Jingles würde es keine mehr geben.

      Einkaufen, Straßenverkehr und Werbung, die als Verführungen in das Alltagsleben eingebauten welthistorischen Zumutungen – in gewisser Weise ließ sich Punk am einfachsten als neue Variante der alten, von der Frankfurter Schule geübten Kritik der Massenkultur verstehen, das kultivierte Entsetzen der Flüchtlinge vor Hitler während des Krieges vor der lässigen Vulgarität ihres Exils Amerika; eine neue Variante von Adornos in Minima Moralia dargelegter Überzeugung, dass er als deutsch-jüdischer Intellektueller auf der Flucht vor den Nazis im Land der Freien die Gewissheit der Vernichtung gegen die Verheißung geistigen Todes eingetauscht hatte. Doch jetzt brachen die Prämissen der alten Kritik an einer Stelle aus, die keiner aus der Frankfurter Schule, weder Adorno noch Herbert Marcuse oder Walter Benjamin, vorhergesehen hatte: aus dem Popkult-Herz der Massenkultur. Seltsamer noch, die alte Kritik der Massenkultur gebärdete sich nun als Massenkultur; zumindest als vielgestaltige Möchtegern-Massenkultur. Falls Punk eine Geheimgesellschaft war, so ist es schließlich das Ziel jeder Geheimgesellschaft, die Welt zu übernehmen, so wie jede Rock-Band das Ziel hat, dass alle ihr zuhören.

      Wahrscheinlich kann man keine Definition von Punk so weit fassen, dass sie Theodor W. Adorno mit einschließt. Als Musikfreund war ihm Jazz zuwider, als er zum ersten Mal Elvis Presley hörte, musste er sich bestimmt übergeben, und die Sex Pistols hätte er zweifellos als Rückkehr der Kristallnacht verstanden, wäre er nicht glücklicherweise 1969 gestorben. Doch in Minima Moralia taucht der Punk alle paar Zeilen auf: Seine ansteckende Abscheu vor dem, was die westliche Zivilisation gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus sich gemacht hatte, war 1977 Thema Hunderter von Songs und Parolen. Wird in den Platten der Sex Pistols jede Emotion auf die Lücke zwischen einem leeren Blick und einem sardonischen Grinsen reduziert, so wird in Adornos Buch jede Emotion auf den Raum zwischen Fluch und Bedauern komprimiert … und auf diesem Gebiet kann das kleinste Streben nach Mitgefühl oder Schöpfung zur absoluten Neuheit werden; wie diverse Fälscher und Schwindler macht Negation die kleinste Geste wichtig. Der Negationist gleicht, in den Worten Raoul Vaneigems, einem Körper, »der von allen Seiten gefesselt ist, Gulliver nach seiner Strandung auf Liliput. Bei dem Versuch, sich zu befreien, blickt er aufmerksam um sich. Das winzigste Detail, die kleinste Erhebung im Boden, die geringste Bewegung – alles bekommt als Anzeichen für eine mögliche Rettung Bedeutung.« Wenn das Leben unter diesen Bedingungen neu erfasst wird, wenn Herrschaft postuliert wird, wenn eine bloße Geste, eine neue Art zu gehen Befreiung bedeuten kann, resultieren daraus unter anderem fast grenzenlose Möglichkeiten für die populäre Kunst.

      Minima Moralia wurde als eine Reihe von Sentenzen, von Reflexionen verfasst, jeder einzelne monolithische Absatz marschierte unaufhaltsam in Richtung Zerstörung jeder Spur von Hoffnung, die er enthalten mochte, jedem Absatz war ein ohnmächtiger Fluch vorangestellt, blanke Ironie, jeder einzelne (beliebig ausgewählte) ein guter Titel für eine Punk-Single: »Bangemachen gilt nicht«, »Schwarze Post«, »Lämmergeier«, »They, the people«. Nach 1977 hätte man ein Sprech-Brüll-Album mit dem Titel Big Ted Says No veröffentlichen können, was popmäßig betrachtet durchaus in sich schlüssig gewesen wäre, und wenn man so will, geschah dies auch: Man höre sich Metal Box von PiL, Johnny Rottens Band nach den Sex Pistols, an, lese dabei Minima Moralia und versuche herauszufinden, wo das eine aufhört und das andere anfängt.

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      Lora Logic, 1979

      Adornos Negation fehlte der sardonische Spaß – ein Wesenszug, den die Punk-Version seiner Welt nie vernachlässigte. Als sie als Pose und Mode die Straße eroberten, wurden Adornos Vorhersagen von Freude erfüllt, was sie einfach und klar machte: »I am the fly«, sangen Wire im Roxy, »I am the fly / I am the fly in the ointment.« Die Kritik der Frankfurter Schule hatte 1977 mächtig Rost angesetzt, weniger weil sie von der Geschichte oder besseren Ideen widerlegt worden wäre, sondern vielmehr, weil sie sich in einen nervtötenden Jingle verwandelt hatte, da sie in den sechziger Jahren an der Spitze zu vieler Charts von Kunststudenten und radikalen Studenten gestanden hatte: Das gesamte gesellschaftliche Leben ist / Hierarchisch durchorganisiert / Undurchdringlich abgeschottet / Um dich in ein Gefäß / Für die Kultur zu verwandeln / Die dich zum Funktionieren / Als Roboter in der Wirtschaft verführen wird. Neu war die Wirkung des Jingles, sein neuer Sound. Jetzt hatte man einen Namen dafür und konnte ihn in Anspruch nehmen. Fragmente einer vor deiner Geburt aufgestellten Theorie kamen aus dem Straßenpflaster und schlugen dir ins Gesicht, als wärest du kopfüber auf den Beton gestürzt. Dein Gesicht war eine Totalität, im Spiegel ein Abbild der Totalität, die du als einzige kanntest, und der Schock des Erkennens veränderte dein Gesicht … jetzt gingst du die Straße entlang, mit eingefrorenem Mund, der für Passanten wie eine Todesstrafe aussah, sich aber für dich wie ein Lächeln anfühlte. Weil dein Gesicht deine Totalität war und der Schock es verändert hatte, veränderte der Schock die Straße. Hattest du erst mal den Nachtclub verlassen und das Pflaster betreten, strotzte jedes farblose öffentliche Gebäude nur so von geheimen Botschaften der Aggression, Beherrschung, Bosheit.

       UM MIT

      dieser Vision von Hässlichkeit fertigzuwerden, lebte man sie aus. Heute, nach über einem Jahrzehnt Punkstil, wenn ein grünlila Irokesenhaarschnitt auf dem Kopf eines amerikanischen Halbwüchsigen aus der Vorstadt nur die Frage aufwirft, wie früh er oder sie aufstehen muss, um seine oder ihre Frisur rechtzeitig vor der Schule fertigzustellen, kann man sich kaum noch vorstellen, wie hässlich die ersten Punks waren.

      Sie waren wirklich hässlich. Zwischentöne gab es keine. Eine zwanzig Zentimeter lange Sicherheitsnadel, die sich durch eine Unterlippe in ein auf die Wange tätowiertes Hakenkreuz bohrte, war kein modisches Statement; ein Fan, der sich den Finger in den Hals rammte, sich in die Hände kotzte und anschließend das Erbrochene in Richtung der Leute auf der Bühne schleuderte, verbreitete ansteckende Krankheiten. Ein zwei Zentimeter breiter Heiligenschein aus Maskara erinnerte eher an Tod als an irgendwas anderes. Die Punks waren nicht nur gutaussehende Menschen wie die Slits oder die Adverts-Bassistin Gaye, die sich erst hässlich machten. Sie waren fett, magersüchtig, pockennarbig, picklig, sie stotterten, waren verkrüppelt, narbig oder beschädigt, und ihre neuen Verzierungen unterstrichen lediglich das bereits in ihre Gesichter eingegrabene Scheitern.

      Die Sex Pistols hatten ihnen irgendwie ermöglicht, in der Öffentlichkeit als menschliche Wesen zu erscheinen und ihre Gebrechen als gesellschaftliche Tatsachen zur Schau zu stellen. »I was waiting for the Communist call«, sang Johnny Rotten unterwegs zur Mauer in »Holidays in the Sun«. Von derselben westlichen Seite der Mauer stellt in Peter Schneiders 1982 erschienenem Buch Der Mauerspringer der Erzähler, durch die ideologisch konträren Nachrichten im Ost- bzw. West-Berliner Fernsehen völlig verwirrt, die gleiche Frage wie Punk: »Gründet sich nicht jede Karriere in der westlichen Gesellschaft, gleichgültig, ob es sich um die eines Sportlers, Unternehmers, Künstlers oder Rebellen handelt, auf den überzeugt vorgeführten Gestus, dass jede Initiative die eigene, jede Idee selbst erfunden, jede Entscheidung eine ganz persönliche ist? Was würde ich anfangen, wenn ich aufhören würde, die Schuld im Prinzip eher bei mir als


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