Lipstick Traces. Greil Marcus
reflexiv ist, und immer, wenn man zu dem Schluss kommt, das Leben sei Mist und die Gattung Mensch größtenteils ein Haufen Scheiße, hat man den idealen Nährboden für Faschismus«. 1977 in London gab es eine Zeit, da galt Jack the Ripper als der Punk schlechthin, und alles von Schlägereien bis Vernichtungslagern gehörte irgendwie dazu; als die Eaters »Get Raped« schäumten, schien das ebenso wahr zu sein wie die verschmitzte Gleichsetzung von Ladendiebstahl und Flirt durch die Buzzcocks in »Breakdown«. All diese Dinge wurden kurzzeitig legitimiert durch eine Bewegung, die alles vereinnahmte, was von der Gesellschaft offiziell abgelehnt und stigmatisiert wurde.
Heute, so viele Jahre später, schockiert Punk dadurch, dass jede gute Punk-Platte immer noch wie das Größte klingt, was man je gehört hat. »A Boring Life«, »One Chord Wonders«, »Oh Bondage Up Yours« von den X-Ray Spex, die Singles der Sex Pistols, »Complete Control« von den Clash – die Kraft dieser kleinen Plastikteile, die Spannung zwischen den sie treibenden Sehnsüchten und dem Fatalismus, der darauf wartete, jeden Beat abzublocken, das Lachen und die Überraschung in den Stimmen, das alles schockiert heute, weil jedes Stück während seiner zwei oder drei Minuten absolut ist. Man kann keine Platte über die andere stellen, nicht beim Zuhören; jede einzelne ist das Ende der Welt, die Schöpfung der Welt, in sich vollendet. Jede zwischen 1976 und 1977 in London gemachte gute Punk-Platte kann einen überzeugen, nie etwas Besseres gehört zu haben, weil sie überzeugen kann, dass man nie etwas anderes zu hören braucht, solange man lebt. Jede Platte scheint alles zu sagen, was es zu sagen gibt. Solange der Sound anhält, dringt kein anderes Geräusch durch, nicht einmal die Erinnerung an andere Musik.
Um John Peel zu zitieren, es war wie in den fünfziger Jahren, als eine Überraschung nach der anderen aus dem Radio drang … und doch gab es einen Unterschied. Zwar mochten die Sänger, die fünfzehntausend Doowop-Platten machten, Amateure sein, aber unterstützt wurden sie von professionellen Musikern; selbst wenn sie keine Ahnung hatten, welche gesellschaftlichen Fakten die Platten zerstören würden, wussten sie doch, welche Akkorde als nächstes an der Reihe waren. Die Punks, die 1977 Platten machten, wussten nicht, welche Akkorde als nächstes an der Reihe waren … und sie stürzten sich auf gesellschaftliche Fakten. Das Bewusstsein, dass sich ein gesellschaftliches Faktum durch einen gebrochenen Akkord ansprechen ließ, schuf Musik, die dein Bewusstsein davon veränderte, was Musik bewirken konnte, somit veränderte sie dein Bewusstsein von dem gesellschaftlichen Faktum: Es war zerstörbar. Das war das Neue daran – im Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre hatte es keinerlei Endzeitstimmung gegeben.
In den besten Punk-Singles herrscht das Gefühl vor, was gesagt werden muss, müsse sehr schnell gesagt werden, weil die erforderliche Energie und der Wille, es zu sagen, sich nicht lange beibehalten ließen. Die Energie vergeht, der Wille zerbricht … die Idee verschwindet wieder im Erdboden, die Zuhörer stehen auf, ziehen ihre Jacken an und gehen nach Hause. So wie ihr Rhythmus war die Stimme der Punk-Musik immer unnatürlich: jenseits der Persönlichkeit bis zur Anonymität beschleunigt, eingezwängt, reduziert, künstlich. Aus mehr als einem Grund lenkte sie die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Künstlichkeit: als Ablehnung des Mainstream-Pop-Humanismus zugunsten von Wut und Angst, als Reflex der Furcht, nicht verstanden zu werden. Doch unnatürlich war die Stimme vor allem aus ihrer Furcht heraus, die Gelegenheit zu sprechen zu verlieren – eine Gelegenheit, wie jeder gute Punk-Sänger begriff, die nicht nur mit Sicherheit vergehen würde, sondern vielleicht sogar unverdient war.
Eine andere Version der Punk-Story, von rechts nach links zu lesen, 1986
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