Lipstick Traces. Greil Marcus

Lipstick Traces - Greil Marcus


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und Caril Fugates aus Tulsa, Oklahoma. Nihilismus kann in der Kunst zwar eine Stimme, aber niemals Befriedigung finden. »Wir spielen hier nicht Theater, Larry«, sagte einer seiner Nadelkumpane zu ihm, als er einmal ein Foto zu viel geschossen hatte. »Das ist das beschissene echte Leben.« »Andere glaubten also, es sei kein Theater«, erinnerte sich Clark Jahre später, »ich schon« – obwohl er mitgemacht und einen Selbstauslöser benutzt hatte, um zu fotografieren, wie das Blut an seinem Arm runterlief.

      Nihilismus bedeutet, die Welt in ihren eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint … doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offenlässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Ganz gleich wie viele Menschen der Nihilist (oder die Nihilistin) töten mag, sie bleiben immer Solipsisten: Keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Wenn der Nihilist den Abzug betätigt, den Gashahn aufdreht, Feuer legt, die Ader trifft, endet die Welt. Negation ist immer politisch: Sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja ruft sie erst ins Leben. Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – auch die des Nihilisten. Als Negation ließ sich »Anarchy in the U.K.« in Interviews rational übersetzen: Da er zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt der Negationist, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint. Doch als »Holidays in the Sun«, die vierte und letzte Single der Sex Pistols, im Oktober 1977 auf den Markt kam, wurden solche »Übersetzungen« weder angeboten, noch waren sie möglich.

       MITTLERWEILE

      erhoben zahllose neue Gruppen öffentlicher Stimmen unmögliche Ansprüche, und die Sex Pistols gerieten in ganz Großbritannien unter Beschuss. Während einer im Namen des öffentlichen Anstands, ja sogar der öffentlichen Sicherheit geführten Kampagne verboten die Behörden ihre Konzerte; Ladenketten weigerten sich, ihre Platten in ihr Sortiment aufzunehmen. EMI, die erste Plattenfirma der Sex Pistols, nahm »Anarchy in the U.K.« vom Markt, als die Platte gerade ihr Publikum erreichte; nach dem vom Fernsehen übertragenen »Fuck«, das Declan McManus so viel Spaß gemacht hatte, ließ die Firma sie fallen, rief die Platten zurück und schmolz sie ein. Patriotische Arbeiter weigerten sich, die Nachfolgesingle »God Save the Queen« herzustellen, eine dreiminütige Randale gegen das silberne Krönungsjubiläum von Elizabeth II.; A&M, die zweite Plattenfirma der Band, vernichtete die wenigen gepressten Exemplare. Als Virgin, das dritte Label der Sex Pistols, die Platte endlich veröffentlichte, wurde »God Save the Queen« aus den BBC-Charts gestrichen und stand als weißer Fleck an der Spitze der Hitparade, was zu der bizarren Situation führte, dass die beliebteste Schallplatte des Landes illegal war. Die Presse schürte eine moralische Panik, um ihre Auflagen zu steigern, doch bald gewann die Panik durchaus reale Züge: Im Parlament wurden die Sex Pistols als Bedrohung der britischen Lebensart angeprangert, von Sozialisten als Faschisten, von Faschisten als Kommunisten beschimpft. Man griff sich Johnny Rotten auf der Straße und schnitt ihn mit einem Rasiermesser, ein anderes Bandmitglied wurde gejagt und mit einer Eisenstange malträtiert.

      Die Gruppe selbst war verfemt. Ende 1975, als die Sex Pistols zum ersten Mal in Erscheinung traten, sich in das Konzert einer anderen Band drängten und so taten, als seien sie die Vorgruppe, zog man nach zehn Minuten den Stecker raus; jetzt mussten sie, um in der Öffentlichkeit zu spielen, heimlich auftreten, unter falschem Namen. Die Leere des von ihnen erschlossenen Terrains – die zahllosen neuen Stimmen von unten, die Häufung der Schmähungen von oben, der Kampf beider Seiten um die Kontrolle dieses plötzlich freien Terrains – hatte sie zur Selbstzerstörung getrieben, in das jedem nihilistischen Lärm eigene Schweigen.

      Diese Möglichkeit hatte von Anfang an bestanden … eine der Gassen, die von der offenen Straße wegführten. Im Herzen der Sex-Pistols-Musik gähnte ein schwarzes Loch, die mutwillige Lust an der Zerstörung von Werten, mit denen sich niemand anfreunden konnte, und vielleicht war Johnny Rotten deshalb von Anfang an der einzige wahrhaft furchterregende Sänger, den der Rock ’n’ Roll je erlebt hat. Doch der Schrecken nahm gegen Ende eine neue Gestalt an: Zweifellos hat noch keiner bis auf den Grund von »Holidays in the Sun« geblickt, und wahrscheinlich wird es auch keiner je tun.

      Angefangen hatten die Sex Pistols, als verfolgten sie ein Projekt; in »Anarchy in the U.K.« verdammten sie die Gegenwart, in »God Save the Queen« die Vergangenheit so heftig, dass ihr Fluch die Zukunft gleich mitriss. »NO FUTURE« …

      NO FUTURE

      NO FUTURE

      NO FUTURE FOR YOU

      NO FUTURE

      NO FUTURE

      NO FUTURE

      NO FUTURE FOR ME

      … so lautete der ätzende Chorus am Ende des Songs. »No future in England’s dah-rrrreeming!«: Englands Traum einer glorreichen Vergangenheit, wie ihn die Queen verkörperte, die »Idiotin« (»moron«), zentrale Touristenattraktion des Landes, Stütze einer auf nichts basierenden Wirtschaft, Balsam für den kollektiven Phantomschmerz Englands nach dem Verlust des Empire. »We’re the future«, schrie Johnny Rotten und hörte sich mehr denn je wie ein Verbrecher, ein entflohener Geisteskranker, ein Höhlenmensch an … »Your future«. Die Sex Pistols waren von der Presse als Vorboten einer neuen Jugendbewegung gefeiert worden; mit »God Save the Queen« stritten sie dies ab. Jede Jugendbewegung stellt sich als Darlehen auf die Zukunft dar und versucht, es vorzeitig einzulösen, aber wenn es keine Zukunft gibt, sind alle Darlehen gestrichen.

      Die Sex Pistols wollten mehr sein als ein Stichwort in der nächsten überarbeiteten Ausgabe eines soziologischen Nachschlagewerks über Jugendkulturen im Nachkriegsgroßbritannien. Was dieses »mehr« war, hätte man vielleicht einem Textfragment auf der Hülle von »White Riot« / »1977« entnehmen können, der ersten Platte der Clash: »Es gibt eventuell eine gewisse Spannung in der Gesellschaft, wenn vielleicht überwältigender Druck die Industrie zum Stillstand oder Barrikaden auf die Straßen bringt, Jahre nachdem die Liberalen diese Vorstellung als ›antiquierten Romantizismus‹ verworfen hatten«, schrieb ein ungenannter Mensch zu einem ungenannten Zeitpunkt, »dann erfindet der Journalist die Theorie, es handele sich dabei um einen Generationskonflikt. Jugend ist schließlich kein permanenter Zustand, und ein Generationskonflikt stellt für die Regierungskunst keine so fundamentale Gefahr dar wie ein Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten.«

      Vielleicht ging es den Sex Pistols also um einen Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten. Als Nummer zwei der Londoner Punk-Bands hatten die Clash immer die Aufgabe, den Rätseln der Sex Pistols einen Sinn zu geben, und dieses Zitat klang durchaus sinnvoll … allerdings brauchte man sich »God Save the Queen« nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin.

      Der verzehrende Abscheu in Rottens Stimme (»We love our Queen / We mean it, man / God save« – damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, dass sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein wie »God Save the Queen« klingt, lässt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je erfüllen könnte. »God save«: Die Betonung deutete an, dass es keine Rettung gab. Ein Gitarrenlick riss den Song und jeden, der ihn hörte, entzwei.

      Was blieb? Vielleicht Mummenschanz: Mit »Pretty Vacant«, ihrer dritten Single, waren die Sex Pistols aus seit Jahrhunderten erkalteten Gräbern als Lollarden wiederauferstanden, Verkünder der uralten britischen Ketzerei, die Arbeit mit Sünde gleichsetzte und beide verwarf. Arbeit ist laut Bibel Gottes Strafe für die Erbsünde, doch in der Bibel der Lollarden stand das nicht. Sie sagten, Gott sei vollkommen, Menschen seien Geschöpfe Gottes, also seien Menschen vollkommen und könnten nicht sündigen, außer gegen ihre eigene vollkommene Natur, indem sie arbeiteten, indem sie ihre gottgegebene Autonomie der Herrschaft der Mächtigen opferten, der Lüge, die Welt sei für etwas anderes als das eigene Vergnügen geschaffen. Im vierzehnten Jahrhundert war das ein gefährlicher Glaube, in einem Popsong des zwanzigsten Jahrhunderts


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