Lipstick Traces. Greil Marcus
in the U.K.« später in Bob Geldofs Mund legen sollten – das konnte man sich durchaus vorstellen. Doch als mir meine guatemaltekischen Reisen im Mikrofilmraum einfielen, fragte ich mich, ob es für die Geschichte der Sex Pistols etwas bedeutete, dass die Potlatch-Autoren (Gil J. Wolman, Michèle Bernstein und die vier anderen, die damals ihre Namen auf das Papier schrieben) im Sommer 1954 den Sturz des Reformers Arbenz durch die CIA als zentrales gesellschaftliches Ereignis wählten, als Metapher und als Mittler zu der Sprache der »alten Welt«, die sie zerstören wollten, zu der »neuen Zivilisation«, die sie schaffen wollten.
Hier fanden sich hellsichtige Versionen der Nachrichten der folgenden Woche, als Potlatch Saint-Just von der Guillotine zurückholte, um ein »Voraburteil« über Arbenz’ Weigerung abzugeben, Guatemalas Arbeiter gegen den unvermeidlichen Putsch zu bewaffnen (»Wer eine Revolution nur halbherzig macht, schaufelt sein eigenes Grab«). Außerdem fanden sich kryptische Verweise auf die Katharer, Ketzer im Frankreich des dreizehnten Jahrhunderts, sowie die neuesten Erkenntnisse der Teilchenphysik. Hier tauchte auch die erste Notiz eines immer wiederkehrenden situationistischen Themas auf: der Vorstellung vom »Urlaub« als einer Art Teufelskreis von Entfremdung und Unterjochung, ein Symbol der falschen Versprechungen des modernen Lebens, ein Gedanke, der mit CLUB MED – EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE im Paris des Mai 1968 als Graffito auftauchte und sich später, so schien es, in »Holidays in the Sun« verwandelte. »Nach Spanien oder Griechenland kann sich nun auch Guatemala zu den für den Tourismus geeigneten Ländern zählen«, schrieb die L.I. kühl und merkte an, dass die Exekutionskommandos der neuen Regierung bereits die Straßen von Guatemala City säuberten. »Wir hoffen, irgendwann mal hinzufliegen.«
DIE FRAGE
nach einer Ahnenreihe in der Kultur ist müßig. Jede neue Manifestation in der Kultur schreibt die Vergangenheit um, macht aus alten Unpersonen neue Helden und aus alten Helden Leute, die besser nie geboren worden wären. Neue Akteure durchkämmen die Vergangenheit nach Ahnen, schließlich bedeuten Ahnen Legitimität, und Neuheit bedeutet Zweifel – aber zu allen Zeiten tauchen vergessene Akteure aus der Vergangenheit nicht als Ahnen, sondern als Vertraute auf. Im Amerika der zwanziger Jahre war es Herman Melville, in der Rock ’n’ Roll-Ära der sechziger Jahre war es der Mississippi-Bluesman Robert Johnson aus den Dreißigern, in den entropischen siebziger Jahren des Westens war es der sorgfältig absolutistische deutsche Kritiker Walter Benjamin aus den Zwanzigern und Dreißigern. 1976 und 1977 sowie in den folgenden, symbolisch von den Sex Pistols umgestalteten Jahren waren es vielleicht Dadaisten, Lettristen, Situationisten sowie diverse mittelalterliche Ketzer.
Hörte man sich nur die Platten an, war das nicht besonders aufschlussreich. Als ich mir die Verbindungen ansah, die andere hergestellt und vorausgesetzt hatten (überprüfte man eine Angabe, führte sie zu nichts), verstrickte ich mich plötzlich in etwas, bei dem es weniger um kulturelle Ahnenforschung ging oder darum, die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen einer Story zu verfolgen, als darum, eine Geschichte zu erfinden. Aus dem Schatten bekannter Ereignisse schälte sich eine unwesentliche Geschichte heraus; jede Manifestation beanspruchte während ihres kurzen Moments die ganze Welt, um dann zu einer zehnstelligen Zahl im Deweyschen Dezimalsystem reduziert zu werden. Wenn diese Story vor dem Hintergrund von Kriegen und Revolutionen auch annähernd stumm war, schien sie doch für dieses Jahrhundert charakteristisch zu sein, eine Geschichte, die immer wieder die Stimme erhebt und sie von neuem verliert; es schien eine Stimme zu sein, die sich nur erheben musste, um wieder verloren zu gehen.
Bei meinem Versuch, dieser Story zu folgen – wobei die Protagonisten immer wieder in die Kleider der anderen schlüpften, bis ich es aufgab, sie zum Stillhalten zu bewegen –, reizten mich ihre Lücken sowie jene Momente, in denen die Story, die ihre Stimme verloren hatte, diese irgendwie wiedergewinnt, und was sich danach entwickelt. Lange bevor ich Potlatch aufspürte, hatte ich eine »Die vergoldete Legende« überschriebene Anzeige dafür aus dem Jahr 1954 entdeckt, eine Seite in Les Lèvres nues, einer belgischen, auf Hochglanzpapier gedruckten neosurrealistischen Zeitschrift. »Das Jahrhundert hat ein paar große Brandstifter gekannt«, stand in der Anzeige. »Heute sind sie entweder tot, oder sie putzen sich vor dem Spiegel heraus … Überall entdeckt die Jugend (wie sie sich selbst nennt) unter dreißig Jahren Staub und Schutt ein paar stumpf gewordene Messer, ein paar entschärfte Bomben; die Jugend schleudert sie, schlotternd vor Angst, auf den willigen Pöbel, der sie mit schmierigem Lachen begrüßt.« Der L.I.-Publizist versprach, Potlatch wisse einen Weg aus dieser Sackgasse, und erwähnte dann, welche Fragmente surrealistischer Messer und Dada-Bomben es noch gebe. Heute scheint mir, als sei die Lettristische Internationale (bloß eine Handvoll junger Leute, die sich ein paar Jahre lang unter diesem Namen zusammenschlossen, um sich gut zu amüsieren, um die Welt zu verändern) selbst eine damals unbeachtete Bombe gewesen, die Jahrzehnte später als »Anarchy in the U.K.« und »Holidays in the Sun« explodierte.
Eine solche Behauptung ist weniger eine These zu dem Thema, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt, als ein Hinweis darauf, dass die Verquickung von heute und gestern im Grunde ein Rätsel ist. Potlatch entlehnte nämlich nach eigener Auskunft seinen Namen »der unter nordamerikanischen Indianern geläufigen Bezeichnung einer vorkommerziellen Form von auf dem Austausch aufwendiger Geschenke beruhendem Warenverkehr«; die »unverkäuflichen Waren, die beispielsweise eine kostenlose Druckschrift verteilen kann, sind bislang unveröffentlichte Wünsche und Fragen, und lediglich ihre gründliche Analyse durch andere stellt ein Gegengeschenk dar«. Dieses Buch entstammt dem Wunsch, die geballte Kraft von »Anarchy in the U.K.« als Musik zu begreifen, seine Fruchtbarkeit als Kultur zu verstehen. Vielleicht liegt der Schlüssel zu diesen Fragen nicht darin, dass die Sex Pistols ihre Existenz auf das Geschenk der L.I. zurückführen konnten, sondern dass sie das Geschenk blind zurückgaben, und zwar in einer Form, die die Schenkenden nie erkannt hätten – Ästheten, die entsetzt miterlebt hätten, wie ihre Theorien zu billigen Waren wurden. Wenn »Anarchy in the U.K.« tatsächlich eine alte vergessene Gesellschaftskritik aufnahm, so ist das interessant; doch wenn »Anarchy in the U.K.« als ein Teil eines neuen »Potlatsch«, eines Gesprächs zwischen ein paar tausend Songs, dieser Kritik Leben einhauchte … das wäre weit mehr als interessant.
Diese Story, falls es denn eine ist, erzählt sich nicht von allein; als ich ihre Umrisse gesehen hatte, wollte ich die Story so formen, dass jedes Fragment, jede Stimme ein Urteil über alle anderen abgab, auch wenn die Menschen hinter den einzelnen Stimmen noch nie voneinander gehört hatten. Besonders dann; besonders wenn, wie in »Anarchy in the U.K.«, ein Zwanzigjähriger namens Johnny Rotten eine Gesellschaftskritik neu formulierte, von Leuten erdacht, die es, wenn man ihn fragte, nie gegeben hatte. Wer wusste denn, was sonst noch zu dieser Geschichte gehörte? Wenn man, statt weiter auf die Vergangenheit zu starren, ihr stattdessen zuhörte, könnte man eventuell den Widerhall eines neuen Gesprächs hören; dann wäre der Kritiker damit beschäftigt, Sprecher und Zuhörer, die von der Existenz des anderen nichts wissen, zu einem gemeinsamen Gespräch zu führen. Aufgabe des Kritikers wäre es dann, seine Fähigkeit zu bewahren, über den Fortgang des Gesprächs überrascht zu sein und dieses Gefühl der Überraschung anderen Menschen mitzuteilen, da ein Leben mit Überraschung besser ist als ein Leben ohne.
Mein Wunsch, aus dem anfänglichen Entwurf schlau zu werden, wandelte sich zum Wunsch, aus der Verwirrung schlau zu werden, die der Entwurf umgehend bewirkte – aus kryptischen Erklärungen schlau zu werden, die ungeniert das ganze Gewicht der Geschichte für sich reklamierten, wie jene des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1975:
wenn der Begriff Modernität überhaupt eine Bedeutung hat, ist es diese: von Anfang an trägt er eine radikale Negation in sich … Dada, jenes Ereignis, das in einem Züricher Café stattfand.
Oder die der Situationisten aus dem Jahr 1963: »Der Moment der wirklichen Poesie … bringt die nicht beglichenen Schulden der Geschichte noch einmal ins Spiel.« War diese Zeile, so fragte ich mich, wohl ein Hinweis auf das Versprechen der Berliner Dadaisten von 1919?
dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt.
Oder auf den Reiz von »NO FUTURE«, dem berühmtesten Slogan der Sex Pistols? Auf die No-future-Kälte im Gesicht des Lettristen Serge Berna, als er 1952 für die