Verwildert. George Monbiot
George Monbiot
Verwildert Die Wiederherstellung unserer Ökosysteme und die Zukunft der Natur
Aus dem Englischen von Dirk Höfer
Feral, engl. verwildert: in einem wilden Zustand, besonders nach der Flucht aus Gefangenschaft oder Domestizierung
Für Rebecca, Hanna und Martha In Liebe
Und im Gedenken an Morgan Parry, einen rechtschaffenen Mann
Inhalt
5)Der Leopard, der nie gesichtet wurde
10)The Hushings / Freispülungen
11)Das Tier in uns oder wie Rückverwilderung nicht stattfinden sollte
13)Die Rückverwilderung der Ozeane
1)Ein Sommer voller Geräusche
Ich steh jetzt auf und gehe, denn ich hör Tag und Nacht
Den See ans Ufer plätschern, die Wellen kräuseln sacht:
Gleich, ob ich auf dem Feldweg, auf grauem Pflaster steh,
Ganz tief im Herzen hör ich den See.
William Butler Yeats, Die Seeinsel von Innisfree1
Jedes Mal, wenn ich ein Stück Grassoden anhob, sah ich das Gleiche: Ein weißes Komma, das sich zwischen den Graswurzeln wand. Ich klaubte eines auf. Es besaß einen kleinen ingwerfarbenen Kopf und winzige Beinchen. Seine Haut war so straff gespannt, dass sie an den Segmenten beinahe platzen wollte. Am Schwanzende war der indigofarbenen Strich seines Verdauungstrakts zu sehen. Ich ging davon aus, dass es sich um den Engerling eines Maikäfers handelte, jenes Käfers mit dem bronzefarbenen Rücken, der im Frühsommer ausschwärmt. Einen Moment lang sah ich noch zu, wie er zuckte, dann steckte ich ihn mir in den Mund. Als er auf meiner Zunge zerplatzte, erlebte ich zwei Empfindungen, die mich wie Blitze durchzuckten. Die erste war der Geschmack. Er war süß, cremig, leicht rauchig, wie Alpenbutter. Die zweite betraf die Erinnerung. Ich wusste sofort, warum ich die Eingebung hatte, das Ding ließe sich essen. Ich stand in meinem Garten, Graupel bohrten sich in meinen Nacken, und erinnerte mich.
Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis mir klar war, wo ich mich befand. Über meinem Kopf wogte und knallte eine blaue Plane im Wind. Die Pumpen liefen schon, ich musste also verschlafen haben. Ich schwang meine Beine über den Rand der Hängematte und saß blinzelnd in dem hellen Licht, starrte über das zerstörte Land. Die Männer standen schon bis zur Hüfte im Wasser und spritzten mit Hochdruckschläuchen die Kiesbänke frei. In der Nacht waren ein paar Schüsse gefallen, aber Leichen waren keine zu sehen.
Die Bilder der vergangenen Wochen gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an Zé, den Massenmörder, dem die Landebahn in Macarão gehörte, wie er mit seinen schießwütigen Männern in die Bar kam und den Laden aufmischte. Ich erinnerte mich auch an den Mann, der später herausgetragen wurde, in der Brust ein Loch von der Größe eines Apfels. Ich dachte an João, einen mestizo aus dem Nordosten Brasiliens, der zehn Jahre lang den Amazonas zu Fuß durchstreift hatte, bis hinauf zu den Minen in Peru und Bolivien, um sich dann weitere 3500 Kilometer durch die Wälder zu schlagen und hier zu landen. »Ich habe in meinem Leben nur drei Männer getötet«, erzählte er, »und dass sie starben, war absolut notwendig. Aber wenn ich hier einen Monat bleibe, würde ich nochmal so viele umbringen.«
Ich erinnerte mich an den Mann, der mir die seltsame Schwellung an seiner Wade zeigte. Als ich sie mir genauer betrachtete, wimmelte das Fleisch von langen gelben Maden. Auch an den Professor mit dem gepflegten schwarzen Bart, der Goldrandbrille und der strengen asketischen Art erinnerte ich mich, an den zynischen Kopf, der für einen weniger belesenen Besitzer die Aufsicht über das größte Claim versah. Er sei, so sagte er, bevor es ihn hierher verschlagen habe, Direktor der Universität von Rondônia gewesen.
Aber allen voran musste ich an den Mann denken, der von den Schürfern Papillon genannt wurde. Blond und muskulös, wie er war, mit einem Schnurrbart à la Asterix, überragte er die kleinen dunklen Typen, die von Armut und Landraub getrieben hierhergekommen waren. Von den Chefs, den Händlern, den Luden und den Besitzern der Landebahnen abgesehen war er der Einzige, der sich freiwillig in diese Hölle begeben hatte. Bevor er, ein Franzose, sich dem Goldrausch anschloss, war er im Süden Brasiliens als Techniker für Landwirtschaftsmaschinen tätig gewesen. Er hatte noch kein Gold gefunden und saß nun hunderte Kilometer von der nächsten Stadt entfernt in den Wäldern Roraimas in der Falle, so mittellos wie alle anderen. Hier war ein Mann, der alles riskiert, der Behaglichkeit und Sicherheit aufgegeben hatte für ein Leben in gnadenloser Unsicherheit. Seine Chancen, aus dieser Situation lebend, zahlungskräftig und gesund herauszukommen, standen gering. Aber ich war nicht der Überzeugung, er habe die falsche Wahl getroffen.
Ich putzte mir die Zähne, nahm mein Notizbuch, ging hinaus, über den Schlamm und den Kies. Die Temperatur stieg und im umgebenden Wald erstarb der Lärm der Rufe, Pfeiftöne und Triller. Es war nun drei Wochen her, dass Barbara, die Kanadierin, mit der ich arbeitete, einen Weg durch den Polizeikordon am Boa-Vista-Flughafen gefunden und uns unregistriert auf einen Flug zu den Minen gebracht hatte. Gefühlt waren es Monate. Wir hatten den Schürfern zugesehen, wie sie die Adern aus dem Wald rissen: die Flusstäler, deren Sedimente von Gold durchsetzt waren. Wir waren auf Belege für den einseitigen Krieg gestoßen, den manche gegen die in der Gegend ansässigen Yanomami führten, und für den physischen und kulturellen Kollaps der Gemeinschaften, über die sie hergefallen waren. Wir hatten das Gewehrfeuer gehört, das jede Nacht aus den Wäldern kam, wo Banditen den Schürfern auflauerten, Diebe exekutiert wurden oder Männer, denen das Glück hold gewesen war, um das