Verwildert. George Monbiot
den Wäldern. All das war rauer, wilder und fesselnder als das Leben, das ich bis dahin geführt hatte, und als das Leben, das ich danach führen sollte.
J. G. Ballard hat uns daran erinnert, dass »die Vorstädte von Gewalt träumen. Eingelullt in ihre schläfrigen Villen, geschützt von wohlwollenden Einkaufszentren, wartet man dort geduldig auf die Alpträume, die sie in einer zornigeren Welt aufwachen lassen werden.«2 Noch besitzen wir die Angst, den Mut, die Aggression, die einst entstanden sind, damit wir uns durch unser Streben und unsere Krisen erleben können. Und wir spüren noch immer den Drang, uns in ihnen zu üben. Doch unser sublimiertes Leben nötigt uns zur Erfindung von Herausforderungen als Ersatz für die Schrecken, derer wir verlustig gegangen sind. Die Folgen unserer Natur fürchtend, haben wir uns selbst eingehegt und führen aus Angst, andere zu reizen oder zu beschädigen, ein kleinlautes Leben. »So macht Gewissen Feige aus uns allen.«3
Die Sozialgeschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte ist vor allem von der oft widerwilligen Entdeckung geprägt, dass andere Menschen gleich welcher Sprache, Hautfarbe, Religion oder Kultur ähnliche Bedürfnisse und Wünsche haben wie wir. Seit die Massenkommunikation jenen, deren Rechten wir einst keine Beachtung schenkten, Mittel an die Hand gegeben hat, für sich selbst zu sprechen und die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf ihr Leben zu schildern, sehen wir uns zunehmend durch die nun unumgänglich gewordene Rücksicht auf die anderen eingeschränkt. Nicht minder wirksam ist heute das Wissen, dass so gut wie alles, was wir tun, Folgen für die Umwelt hat. Die durch die Technik ermöglichte Ausweitung unseres Lebens verleiht uns eine Macht über die natürliche Welt, die zu nutzen wir uns nicht länger leisten können. In allem, was wir tun, müssen wir heute auf das Leben der anderen Rücksicht nehmen, voller Bedachtsamkeit, Selbstbeschränkung und peinlicher Genauigkeit. Wir dürfen nicht länger leben, als gebe es kein Morgen.
In vielen Nationen wachsen mächtige Bewegungen heran von Menschen, die diese Einschränkungen ablehnen. Sie protestieren gegen Steuern, Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, Handelsregulierungen, Rauchverbote, Tempolimits oder das Verbot von Schusswaffen. Aber vor allem rebellieren sie gegen Einschränkungen um des Umweltschutzes willen. Wie die Leute, die die Invasion des Yanomami-Landes vorangetrieben haben, treten sie Verbote, die einzuhalten uns der Anstand gebietet, mit Füßen. Sie sind der festen Meinung, sie könnten gleich, wessen Nase gerade im Weg ist, ihre Fäuste schwingen, als sei dies ein Menschenrecht.
Ich hege kein Bedürfnis, zu diesen Leuten zu gehören. Ich akzeptiere die Notwendigkeit von Beschränkungen, eines Lebens der Selbstbeschränkung und Sublimierung. Doch an diesem grauen Tag in Wales realisierte ich, dass ich so, wie ich bisher gelebt habe, nicht mehr weiterleben konnte. Ich konnte nicht einfach weiterhin am Schreibtisch sitzen und schreiben, für meine Tochter sorgen und nach dem Haus schauen, joggen, nur um fit zu bleiben, bloß etwas erstreben, was unsichtbar bleibt, die Jahreszeiten vorüberziehen sehen, ohne wirklichen Bezug dazu. Ich hatte diesem Leben zu wenig angeboten, dem Leben des Geistes,
Dem, was sich nicht in unserm Nachruf findet
Nicht in Aufzeichnungen, die die Spinne gütig überflort,
Noch unterm Siegellack, den der Notar erbricht
In unsern leeren Zimmern4
Ich glaube, ich war ökologisch gelangweilt.
Mir liegt nicht daran, die Zeit unserer Evolution zu romantisieren. Ich habe bereits länger gelebt, als die Lebensspanne der meisten Jäger-Sammler währte. Ohne Ackerbau, sanitäre Maßnahmen, Impfung, Antibiotika, Chirurgie und Augenoptik wäre ich schon tot. Wie ein Kampf um Leben und Tod zwischen mir, der ich kurzsichtig, einen Speer mit Steinspitze in der Hand, durch die Gegend stolpere, und einem riesigen wutschnaubenden Auerochsen enden würde, ist leicht abzusehen.
Untersucht man Ökosysteme der Vergangenheit, so zeigt sich, dass die Menschen, so rudimentär ihre Technologie und so klein ihre Zahl auch gewesen sein mag, beim Einfall in neue Gebiete schon bald viele der dort lebenden Wildtiere – insbesondere die größeren Tiere – ausgerottet hatten. Es gab keinen Zustand der Gnade, kein goldenes Zeitalter, in dem die Menschen in Harmonie mit der Natur gelebt hätten. Mir liegt auch nicht daran, zu den Opfer- und Hinrichtungsstätten jener Zivilisationen, die wir hinter uns gelassen haben, zurückkehren.
Schon gar nicht bin ich auf der Suche nach Authentizität: Das ist für mich kein brauchbarer oder sinnvoller Begriff. Selbst wenn es sie geben sollte, wäre sie per definitionem unmöglich zu erreichen, indem man sie erstrebt. Lediglich meinen Hunger nach einem reicheren, raueren Leben wollte ich stillen, in diesem Leben, das ich damals führte. Doch irgendwie musste ich diesen Drang mit dem Leben in Übereinstimmung bringen, das ich nicht so einfach aufgeben konnte: Mein Kind aufziehen, meine Hypotheken abbezahlen, die Rechte und Bedürfnisse meiner Mitmenschen respektieren, mich davon abhalten, der Natur Schaden zuzufügen. Erst als ich über ein selten gebrauchtes Wort stolperte, wurde mir klar, wonach ich suchte.
Das Wort ist noch jung, besitzt aber schon viele Bedeutungen! Als 2014 das Wort »Auswilderung« (rewilding) Eingang in die Lexika fand, war es schon heiß umstritten.5 Als es geprägt wurde, meinte es das Freilassen von in Gefangenschaft gehaltenen Tieren in die Wildnis. Bald wurde die Bedeutung auch auf die Wiedereinführung von Tier- und Pflanzenarten in Habitate ausgeweitet, aus denen diese verdrängt worden waren. Manche Leute verwendeten das Wort nicht nur für die Wiedereinführung einzelner Arten, sondern die ganzer Ökosysteme: Wiederherstellung der Wildnis. Später wendeten Anarcho-Primitivisten das Wort auch auf das Leben des Menschen an und meinten damit ein Wildwerden der Menschen und ihrer Kulturen. Die zwei Bedeutungen, die für mich von Interesse sind, unterscheiden sich etwas von den genannten.
Die Rückverwilderung natürlicher Ökosysteme, die mich interessiert, bedeutet nicht den Versuch, sie in einen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, sondern schafft die Voraussetzung, dass ökologische Prozesse wieder in Gang kommen. In Ländern wie dem meinen sind die Naturschutzbewegungen bei aller guten Absicht bestrebt, lebende Systeme in der Zeit einzufrieren. Sie versuchen, Tiere und Pflanzen davon abzuhalten, diese Systeme zu verlassen oder – falls sie nicht schon darin vorkommen – in sie einzudringen. Sie versuchen die Natur zu verwalten, wie man einen Garten pflegt. Viele Ökosysteme, etwa Heide- und Moorlandschaften, Hochmoore und Grasland, die man zu erhalten trachtet, werden von der niedrigen, buschigen Vegetation dominiert, die entsteht, wenn Wälder wiederholt gerodet und abgebrannt werden. Diese Vegetation wird von Naturschutzgruppen gehegt und gehätschelt; mit der intensiven Beweidung durch Schafe, Rinder und Pferde verhindern diese Gruppen die Umwandlung solcher Gebiete in Waldland – als hätten sich die Naturschützer im Amazonas entschlossen, anstatt des Regenwaldes die dortigen Rinderfarmen zu schützen.
Rückverwilderung erkennt an, dass Natur nicht nur aus einer Ansammlung von Arten besteht, sondern auch ihre stets veränderlichen Beziehungen untereinander und mit ihrer physischen Umgebung eine Rolle spielen. In dieser Sichtweise bedeutet das Anliegen, ein Ökosystem in seiner Entwicklung zu stoppen und in einem Status quo zu halten, es sozusagen wie ein Glas Gurken einzuwecken, soviel wie etwas zu schützen, das wenig Beziehung zur natürlichen Welt aufweist. Zu dieser Sichtweise haben im Übrigen die faszinierendsten wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit beigetragen.
Ökologen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Existenz breitgefächerter trophischer Kaskaden entdeckt. Dabei handelt es sich um Prozesse, die von Tieren an der Spitze der Nahrungskette ausgelöst werden und die bis an die unterste Ebene der Nahrungskette durchschlagen. Prädatoren und große Pflanzenfresser sind in der Lage, die Orte, an denen sie leben, umzuformen. In manchen Fällen verändern sie dabei nicht nur das Ökosystem, sondern auch die Bodenzusammensetzung, das Verhalten von Flüssen, die Chemie der Ozeane und sogar die Zusammensetzung der Atmosphäre. Befunde wie diese legen nahe, dass die natürliche Umwelt aus weit faszinierenderen und komplexeren Systemen besteht, als wir bislang dachten. Mit ihnen verändert sich unser Verständnis vom Funktionieren der Ökosysteme und sie stellen bestimmte Modelle des Naturschutzes radikal infrage. Zudem liefern sie ein stichhaltiges Argument für die Wiedereinführung großer Raubtiere und anderer verschwundener Arten.
Bei der Recherche zu diesem Buch bin ich mit der Hilfe Adam Thorogoods, eines visionären Försters, auf eine aufwieglerische Idee gestoßen, die mit Ausnahme