Verwildert. George Monbiot

Verwildert - George Monbiot


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worden. Von den Yanomami waren fünfzehn Prozent an Krankheiten gestorben.

      Wegen des internationalen Skandals, den die Invasion auslöste, ließ die brasilianische Regierung die Minen nun räumen und die Schürfer zu Enklaven in anderen Gebieten des Yanomami-Lands abtransportieren. Von dort, das wussten die Schürfer, konnten sie wieder in ihre alten Claims einfallen, sobald das Interesse der restlichen Welt erlahmen würde. Die Bundespolizei hatte die Versorgungslinien unterbrochen, auf den Landepisten waren seit einigen Tagen keine Flugzeuge mehr gelandet. Die Schürfer brauchten ihren letzten Diesel auf und bereiteten sich auf ihren Abzug vor. Am Tag zuvor hätte eigentlich die Polizei eintreffen sollen, um noch vor der Räumung die Waffen zu beschlagnahmen, und die Männer waren den ganzen Morgen über in den Wald gegangen, um ihre Schusswaffen, in Plastik eingewickelt, zu vergraben. Ich war auf Beobachtungsstation geblieben, doch die Polizei war nicht aufgetaucht. Barbara – mein Gott, wo zur Hölle war Barbara?

      Sie war gestern aufgebrochen, um in den Bergen ein Yanomami-Dorf ausfindig zu machen, und wollte eigentlich am heutigen Abend zurück sein. Aber niemand hatte sie gesehen. Ich hielt Ausschau in den von den Schürfern errichteten Hütten und Bars, unter den Trauben von Männern am Boden der Gruben – ohne Erfolg. Ich stieß auf meinen Freund Paolo, einen Mechaniker, der die Ureinwohner in Auseinandersetzungen mit anderen Schürfern verteidigt hatte. Zusammen schlugen wir uns das Tal hinauf, um sie zu suchen. Der Fluss war orange und tot, erstickt von dem Lehm des Waldes, der von den Minen aufgewirbelt wurde. Links und rechts war das Tal eine Wüstenei aus Gruben, Abraumhalden und umgestürzten Bäumen. Arbeiter auf einem Junior Blefé genannten Feldstück erzählten, Barbara sei zwar tags zuvor vorbeigekommen, aber nicht wieder zurückgekehrt. Ein Mann mit einem Trinkergesicht und einem blauen Auge wusste den Weg zum Dorf und erklärte sich bereit, uns zu führen. Wir gingen los, rannten, liefen in die Berge.

      Bald nachdem wir in die Dunkelheit des Waldes vorgestoßen waren, stießen wir auf die Abdrücke von Barbaras Turnschuhen, sie waren einen Tag alt und überlagert von den nackten Fußspuren der Yanomami. Ich hatte meinen Blick auf den Boden gerichtet, aber Paolo hielt immer wieder mit lautem Rufen inne: »Sieh nur dieses Wasser, sieh nur die Bäume, wie schön, sind sie nicht schön?« Ich stoppte und starrte für einen Moment, sah Bäume, die von Moos und Epiphyten über das klare Wasser gebeugt wurden, in Lichtflecken schwebten Wasserjungfern.

      Barbaras Fußabdrücken folgend liefen wir weiter, rutschten über den lehmigen Pfad. Gegen Mittag ging es steil aufwärts; wir kletterten und ich hatte das Gefühl, durch ein Tuch einzuatmen. Bald sah ich es vor uns hell werden: Wir erreichten den Kamm. Von dort sahen wir auf der gegenüberliegenden Talseite Frauen, die sich, nur mit einem Lendentuch bekleidet, durch einen Bananenhain bewegten und Körbe mit Früchten trugen. Hügel auf Hügel, bewaldet und unberührt, versanken in der Stille. Ein paar Minuten noch blieben wir versteckt zwischen den Bäumen, dann gingen wir hinunter durch den Talgrund und wieder in die Gärten hinauf, riefen auf Portugiesisch, dass wir Freunde seien. Die Frauen hielten an und beobachteten, wie wir näher kamen. Ich streckte meine Hände aus; sie schüttelten sie mit scheuem Lächeln. »Weiße Frau«, sagte ich. »Habt ihr die weiße Frau gesehen?« Mit den Händen ahmte ich Barbaras Größe und ihr langes Haar nach.

      Sie lachten und wiesen den Hang hinauf, in den Wald hinter ihrem Rücken. Wir rannten wieder los, über die Anhöhe und in das nächste Tal hinunter. Wir strauchelten, schon erschöpft, durch das Tal, stolperten über Wurzeln und stießen gegen Bäume. Als wir um eine Windung des Pfads bogen, hielten wir an.

      In einer an einem Bach gelegenen Lichtung saß oder kniete eine Gruppe Menschen, die honigfarbene Haut gekühlt von dem buntfleckigen Licht des Waldes. Die Frauen trugen Federn an den Ohren, waren bemalt mit Flecken und Streifen von Wildkatzen, und sie trugen die Schnurrhaare des Jaguars: ihre Nasen und Wangen waren von getrockneten Grashalmen durchbohrt. In der Mitte des Kreises saß Barbara, strahlend wie eine Blume im dunklen Grün des Waldes.

      Sie drehte sie um und lächelte: »Schön, dass ihr es geschafft habt.«

      Mit den jungen Yanomami gingen wir einen Pfad entlang, der zu ihren malocas führte: runde Gemeinschaftshäuser, die fast bis auf den Boden hinunter mit Palmblättern gedeckt waren. Ich zog Hemd und Schuhe aus – alle anderen waren so gut wie nackt – und setzte mich. Die Kinder scharten sich um mich, grinsten, kicherten, verbargen ihre Gesichter, wenn sie angeschaut wurden. Sie zogen an meinen Achselhaaren: die Yanomami besitzen keine. Man gab mir einen Pfriem grüner Blätter und als ich ihn unter meine Lippen schob und daran saugte, vergaß ich meinen Hunger.

      Ein junger Mann bahnte sich einen Weg durch die Menge und gestikulierte, ich solle doch dabei helfen, die Gemeinschafts-maloca zu vergrößern: Ich sollte auf das Dach klettern und dort eine Plane anbringen, die die Gruppe von den Schürfern erhalten hatte. Ich stand ein paar Stunden auf dem Dach und flickte Löcher – unter Anleitung des jungen Manns. Als ich wieder unten war, fragte ich Barbara, warum er sich so herrisch aufführt.

      »Er ist der Häuptling«, antwortete sie.

      »Aber er ist doch gerade mal achtzehn.«

      Sie warf einen Blick in die Runde. »Die älteren Männer liegen alle im Sterben oder sind tot.«

      Die Hängematten im Wohnbereich der maloca waren von Kranken belegt. Als ich mich neben einen fiebernden Jungen setzte, brachen zwei alte Frauen durch den Schirm aus Bananenblättern, schwangen zuckend die Hüften, kreischten, fegten ihre Stöcke über den Boden, die Augen fest zugekniffen. Bevor ich aus dem Weg gehen konnte, wurde ich an den Knöcheln getroffen. Die Frauen stampften um die Hängematte, schrien und schlugen die Luft mit ihren Stöcken.

      Das Gekreische ging noch fast den ganzen Tag weiter. Später erzählte man mir, dass Heilerinnen bei den Yanomami eigentlich unbekannt sind: Das war nur erklärlich, weil die Männer fehlten. Die alten Frauen führten mich zu einer Hängematte eines zwölf-, dreizehnjährigen Mädchens und machten mir vor, was ich tun sollte. Ich stampfte und schrie, wedelte mit den Armen durch die Luft, fegte etwas von der Oberfläche ihres Körpers und stieß es aus der maloca heraus. Von den zwei Frauen genötigt, tanzte und gellte ich schneller und lauter, stampfte und sprang über die Hängematte, bis ich fast ohnmächtig wurde und den Heilerinnen in die Arme fiel.

      Als ich mich erholt und im Bach gewaschen hatte, brachten mir die Frauen etwas zu essen: Auf einem Bananenblatt hatten sie gebackene Kochbananen, Pilze und Käferlarven angerichtet, die Letzteren embryoartig zusammengekrümmt und sich noch windend. Meine Hände verharrten über dem Blatt. »Nur zu«, gestikulierten die Frauen. Ich klaubte eine Larve und öffnete den Mund.

      Ich lehnte auf meinem Spaten und sah auf den Boden. An diesem garstigen Dezembertag – ich war erst seit Kurzem in Wales – holte mich die Kleinheit meines Lebens ein. Ich weiß nicht genau, wie es hatte passieren können, doch irgendwie führte ich plötzlich ein Leben, in dem schon das Einräumen des Geschirrspülers eine interessante Herausforderung darstellte.

      Die Invasion Roraimas, deren Zeuge ich beinahe zwanzig Jahre zuvor gewesen war, steht für alles, was ich verabscheue. Armut und Verzweiflung hatten die Schürfer aus dem Nordosten Brasiliens, von denen viele aufgrund der Machenschaften von Geschäftsleuten und korrupten Beamten von ihrem Grund und Boden vertrieben worden waren, in die Minen getrieben. Doch die Leute, die das Ganze organisiert, die das Geld für den Bau der Landebahnen und den Kauf der Maschinen hatten, töteten und zerstörten aus reiner Gier. Wäre in Brasilien keine neue Regierung an die Macht gekommen und wären die Schürfer nach etlichen Monaten Verzögerung nicht aus dem Land der Yanomami vertrieben worden, hätte den Stamm das gleiche Schicksal ereilt wie die meisten derartigen Volksgruppen auf dem amerikanischen Doppelkontinent: Er wäre ausgelöscht worden. Der alten Regierung war dies bewusst gewesen. Der Genozid war nicht intendiert, er war nur eine unvermeidliche und kaum bedauerliche Folge ihrer Politik.

      Und doch war ich von dem, was ich verabscheute, fasziniert, sogar als ich in den Goldminen war und die Schrecken der Invasion erlebte. Die Minen ließen die Metaphern, mit denen wir leben, zerplatzen. In den reichen Nationen betreiben wir unseren Goldhandel mit Zahlen und sind in unserem Trachten so sehr spezialisiert, dass wir Gefahr laufen, viele unserer Fertigkeiten zu verlieren. Gold war in den Minen Gold, und die Männer machten sich die Hände schmutzig – in jederlei


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