Sieben Welten - Seven Summits. Geri Winkler

Sieben Welten - Seven Summits - Geri Winkler


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ich erahnen können, welch positives Wandlungspotenzial in einer chronischen Erkrankung verborgen liegen kann? Ich fand nach wenigen Jahren meinen individuellen Weg, meinen Diabetes in meine Lebensträume zu integrieren. Ich ging wieder auf Reisen, die langen Ferien gaben mir als Lehrer dazu ausreichend Möglichkeiten.

      Jedes neue Reiseabenteuer steigerte mein Selbstbewusstsein, zu immer aufregenderen Zielen aufzubrechen. 1992 wanderte ich auf der Insel Neuguinea wochenlang mit drei Freunden auf Dschungelpfaden zu den Dörfern der dort steinzeitlich lebenden Urvölker, und es waren zum Teil neue, von Fremden bisher unbegangene Pfade. Der Bann war gebrochen! Der Aufbruch in ein Leben der Grenzenlosigkeit sollte keine Utopie bleiben, kein abgeschottetes Refugium, das nur den großen, bekannten Abenteurern vorbehalten ist.

      Auch meine Bergleidenschaft erwachte zu neuem Leben. Doch das Bergsteigen blieb, was es immer für mich gewesen war: nie Ziel seiner selbst, stets Teil eines komplexen Reiseabenteuers. Auch meine Erlebnisse an den Seven Summits habe ich immer unter diesem Aspekt gesehen. Das vorliegende Werk ist daher kein Bergbuch im eigentlichen Sinn, es ist eine Reise in jene Welten, in der diese sieben faszinierenden Gipfel beheimatet sind.

      Als ich 2004 an Krebs erkrankte, wusste ich, dass ich dieser neuen Herausforderung mit der gleichen Strategie begegnen werde, die auch nach meiner Diagnose Diabetes zum Erfolg geführt hatte. Die intensivsten Jahre meines Lebens sollten meiner erfolgreichen Krebsoperation folgen.

      Schwierigkeiten? Es waren nie die letzten Schritte gewesen, die mich Überwindung kosteten. Es waren immer die ersten Schritte, die all meine Kräfte forderten – die ersten Schritte aus der Komfortzone des Alltags hinaus in ein unwägbares Abenteuer, die ersten Aktivitäten am Morgen in einem eisigen Zeltlager, die Momente vor dem Aufbruch. Danach, auf dem Weg, war alles viel leichter!

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       WIE ALLES BEGANN

      Wirklich ernst habe ich diese Aktion nicht genommen. Dass ich damit eine kleine Lawine in meinem Leben lostreten sollte, damit hatte ich wohl am allerwenigsten gerechnet. Aber alles der Reihe nach!

      Der Frühling ließ die Großstadt wieder zum Leben erwachen, die warme Jahreszeit rückte näher und es war an der Zeit, Reisepläne für die Urlaubswochen reifen zu lassen. Ein Siebentausender soll es in diesem Sommer werden, darüber sind sich Thomas und ich schnell einig. Ein leichter Siebentausender, denn wir wissen, dass wir mit der Höhe noch genug zu kämpfen haben werden. Asienkarten, denn nur dort gibt es Siebentausender, nehmen den kleinen Tisch im Kaffeezimmer in Beschlag. Eine Idee nach der anderen sprudelt aus Thomas und mir heraus, während die mit ihren Kaffeetassen an den Rand gedrängten Kollegen bald nur noch die Köpfe schütteln. Was um alles in der Welt treibt diese Verrückten in der schönsten Jahreszeit in menschenfeindliche, eisige Höhen? Pik Lenin heißt unser erwählter Berggigant – Sommerurlaub in Zentralasien, mal etwas anderes!

      Seit siebzehn Jahren bin ich Diabetiker, ohne mein Insulin kann ich nicht leben. Ob dies immer ein Nachteil sein muss? Ich will es wissen! So sende ich eine E-Mail an alle Unternehmen, die Blutzuckermessgeräte in Österreich vertreiben, biete an, ihre Geräte unter extremen Outdoor-Bedingungen zu testen, führe meinen Kumpel Thomas als nicht-diabetische Kontrollperson für Parallelmessungen an und verspreche großzügig umfangreiches Datenmaterial. Nun, ganz so großzügig ist mein Angebot doch nicht, schließlich denken wir an einen ergiebigen Reisezuschuss. Zu verlieren habe ich ja nichts! Nützt die Anfrage nichts, so kann sie auch nicht schaden! Ich drücke auf „Senden“ und vergesse die ganze Sache bald wieder. Wer soll sich schon für mich interessieren? Die Diabetiker-Kundschaft dieser Unternehmen strömt nicht gerade in Scharen auf Siebentausendergipfel, das Interesse der Firmenvertreter, wie ihre Produkte in eisigen Höhen funktionieren, wird wohl eher bescheiden sein.

      Doch bald traue ich meinen Augen nicht. Da haben sich doch tatsächlich einige Unternehmen gemeldet, die wissen wollen, was ihre Geräte in Sphären jenseits der Gemütlichkeit taugen. Damit ist nicht nur unser Pik Lenin finanziert, da machen wir auch noch Gewinn. Nein, Gewinn wollen wir keinen machen. Da nehmen wir doch lieber noch einen Berg dazu. Ich habe mit dem Muztagh Ata schon einen Siebentausender zu Buche stehen, darum weiß ich, was ich an solchen Touren in große Höhen gar nicht schätze. Es ist dieses ewige Auf und Ab am selben Berg. Ein Stück hinauf, Lastentransport und dann alles wieder runter. Das nächste Mal dieselbe Prozedur, nur eine Etappe weiter, und wieder alles zurück. Beim dritten oder vierten Mal kann man dann den Gipfel ins Auge fassen. Das Ganze ist notwendig, da sich der Körper nur in kleinen Schritten an die immer größere Höhe und dünnere Luft anpassen kann. Warum also nicht vorher einen anderen, etwas niedrigeren Gipfel besteigen, um dann gut akklimatisiert am Pik Lenin aufzutauchen und dieses langwierige Prozedere deutlich zu verkürzen? Ein erstrebenswerter Nachbargipfel muss her! Da scheint der Elbrus im Kaukasus recht günstig zu liegen – zumindest auf der Landkarte, in natura ist er satte 3000 Kilometer entfernt. Der Elbrus ist mit seinen 5642 Metern der höchste Berg des Kaukasus und der höchste Gipfel Russlands. Pik Lenin und Elbrus waren also unser Ziel: Zwei faszinierende Bergregionen, zwei grundverschiedene Völker, zwei Gipfel zum Träumen und dazwischen noch zwei Ruhetage in Moskau – was kann man sich Besseres wünschen!

       ZU LENINS VERGESSENEN ERBEN

      Landeanflug auf Moskau – Minuten später ziehen wir im Strom der Passagiere erwartungsvoll in die Ankunftshalle. Stau! Das neue Russland hat vor den Pforten des Sheremetyevo-Flughafens von Moskau Halt gemacht. Die Erben von Stalin und Breschnew haben hier ihr Refugium gefunden. Willkommen scheint außer ihnen selbst aber niemand zu sein. Mit versteinerter Miene thronen diese ewig Gestrigen in ihren Glashäuschen, delektieren sich an Hunderte Meter langen Warteschlangen und bringen nichts weiter. Der „Kalte Krieg“ gegen die Einreisewilligen wird mit Akribie und Effizienz geführt. Thomas und ich gehören zu den Glückspilzen, wir sind weit vorne gelandet. Nur etwa zwanzig Ankömmlinge warten vor uns auf die Gnade, den Einreisestempel in den Pass gedrückt zu bekommen. Unter zwei Stunden ist da kaum etwas zu machen. Mitfühlend blicke ich auf die Verdammten am Ende der langen Reihe. Werden sie Moskau noch erleben?

      Die groteske Situation hat auch ihr Gutes: Das Warten verbindet, es entstehen neue Bekanntschaften und bald herrscht heiteres Treiben, das nur hin und wieder gestört wird durch strenge Ordnungsrufe aus dem Glaskontor.

      Sie können sich nicht verstecken. Sie sehen überall gleich aus auf dieser Welt, man kann sie mit ihren bunten Hosen und Jacken, ihren halbhohen Trekkingschuhen und ihren lässig über die Schulter geworfenen Tagesrucksäcken auch unter Hunderten nicht verfehlen – die Bergbegeisterten. So erkennen wir ohne Schwierigkeiten in der Menge der Wartenden unsere vier Bergkameraden aus Deutschland, die wir zuvor noch nie gesehen haben. Schnell entwickelt sich die beste Plauderei, die unwirschen Genossen können uns mit ihrer Hinhaltetaktik nicht mehr kratzen. Erstaunt nehmen wir das abrupte Ende unserer Unterhaltung hin. Wir sind tatsächlich dran, die Einreisestempel knallen in unsere Pässe. Das Erlebnis Russland beginnt.

      Kilometerlang kurven wir durch triste Plattenbausiedlungen, jede Straße sieht der anderen zum Verwechseln ähnlich, ehe wir ins kleine, aber sehenswerte Zentrum von Moskau gelangen.

      Viel hat sich verändert seit meinem letzten Besuch in Russlands Hauptstadt vor zehn Jahren. Das Leben ist bunt geworden, Lebensfreude und Ausgelassenheit in den Straßen und Biergärten der Altstadt. In der Glitzerwelt des Kaufhauses Gum am Roten Platz traue ich meinen Augen nicht. War das nicht jene Markthalle, in der sich noch vor einigen Jahren Tausende Russen in dichtem Gedränge mit Billigfetzen eingedeckt haben? Die Kundschaft ist rar und elitär geworden. Die „Fetzen“, die man heute in diesen prunkvoll renovierten Arkaden erwerben kann, sind auch für die meisten westlichen Geldtaschen nicht mehr leistbar – Markenware vom Feinsten aus aller Welt.


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