Sieben Welten - Seven Summits. Geri Winkler

Sieben Welten - Seven Summits - Geri Winkler


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in dieser alles überwuchernden Wildnis zu überleben und nach ihrem Glück zu schürfen. Selbst die menschliche Sprache scheint hier fast schon in Vergessenheit zu geraten, nur das Notwendigste wird ausgetauscht. Wortkarg, aber nicht unfreundlich laden sie uns zu selbst gedrehten Zigaretten und Rum ein. Welches utopische Lebenskonzept hat sie an diesen Ort verschlagen? Traum, Zuflucht und bitterer Fluch zugleich!

      Der Pfad zu den Kaieteur-Fällen ist viel zu lang, als dass wir ihn zu Fuß in voller Länge gehen könnten. Hin und wieder werden wir Melvils schnelles Boot zu Hilfe nehmen, um unseren Weg abzukürzen. Solange wir dem Potaro folgen, wird er auch unser Gepäck transportieren. Wir werden es ihm danken, denn die verwachsenen Dschungelpfade würden mit schweren Rucksäcken für uns zur Hölle werden.

      Doch vorerst versperren die Ama-Fälle jedes weitere Fortkommen auf dem Fluss. Zu viert schultern wir das schwere Boot, während Kathleen vor uns alle Hindernisse aus dem Weg räumt und uns vor Tücken auf dem kaum einsehbaren Untergrund warnt. In vierzig Minuten tragen wir das Boot auf einem ausgetretenen Pfad hinauf zum Ufer oberhalb der Fälle. Anschließend müssen wir noch den Motor und unser gesamtes Gepäck hinaufschaffen. Dann aber geht es erst so richtig los! Der Pfad zieht kaum erkennbar wie ein dünner Faden durch den alles bedeckenden Regenwald. Immer wieder kommen wir ins Stocken, müssen mit der Machete Hindernisse aus dem Weg schlagen. Auf schmalen, schwankenden Baumstämmen queren wir unzählige kleine Nebenflüsse des Potaro. Rechts des Pfades erblicken wir eine kleine Rodung mit einer riesigen Diamantenwaschanlage. Wie haben sie dieses Ungetüm in die Wildnis schaffen können? Der Maschinenlärm wirkt bizarr in diesem von Vogellauten beherrschten Regenwald. Wir sehen dem fremdartigen Treiben eine Weile zu, die Arbeiter lassen sich nicht stören, würdigen uns kaum eines Blickes.

      Am späten Nachmittag erreichen wir das Lager Waratok. Noch viel kleiner als Amatok, finden wir dort nur einige in den Boden gerammte Holzpflöcke unter einem düsteren Blätterdach vor. Geschickt verwandeln Frank und Melvil mit wenigen Handgriffen, einigen Tauen und mitgebrachten Planen den regennassen Platz in eine wohnliche Stätte.

      „Tok“ heißt Wasserfall in der Sprache der Patamona. Überall, wo eine Ortsbezeichnung mit „Tok“ endet, ist eine dieser Naturgewalten vorzufinden. Der Wasserfall ist herrlich, um dort ein Bad zu nehmen, doch am nächsten Morgen müssen wir wieder Boot und Gepäck neben den stürzenden Wassern nach oben schleppen. Oberhalb der Fälle wandern wir weiter, immer nahe am Ufer des Potaro, zum Lager Tukai. Von einem Lager ist außer einer Rodung hier nicht mehr viel zu sehen. Frank drückt mir seine Machete in die Hand und bittet mich, im Wald zwei Bäume für den Lagerbau zu fällen. Ich tue, wie mir geheißen, verschwinde im Wald und lege tüchtig los. Naiv beginne ich beim erstbesten Stamm mit dem Hacken. Als ich durch bin, muss ich feststellen, dass sich der Wipfel des gefällten Stammes nicht von den Ästen der Nachbarbäume lösen lässt. Ich bekomme den Baum nicht frei, auch nicht mit Mickeys Hilfe. Das passiert uns noch ein zweites Mal. Erst dann werden wir klüger und testen die Bäume schon vor dem Fällen. So fälle ich am Ende vier statt der geforderten zwei Stämme. Zu guter Letzt zaubern wir ein wohnliches Lager auf die kleine Rodung und erfrischen uns in den Fluten des Potaro.

      Am nächsten Morgen überwinden wir 400 schweißtreibende Höhenmeter auf einem erstaunlich guten Pfad. Dann wird das Gelände flach, leicht abfallend. Die Erwartung steigt! Endlich sehen wir sie, zuerst fast verdeckt durch das dichte Blätterdach, dann frei und ungehindert von einer kleinen, felsigen Plattform aus – die Kaieteur-Fälle, eine der höchsten frei fallenden Wassermassen der Erde. 230 Meter stürzen hier die Fluten des Potaro aus dem Bergland Guyanas in die Tiefebene. Wir können die Augen kaum abwenden von der Pracht dieses gewaltigen Naturschauspiels und werden noch Stunden an diesem Platz verweilen.

      Vor dem Sonnenuntergang erwacht die spektakuläre Szenerie noch einmal zum Leben. Der Himmel wird fast schwarz. Tausende Schwalben tauchen über den Fällen auf, wie aus dem Nichts, flattern minutenlang über der Kante, wo das Wasser in die Tiefe abbricht, um dann, alle gleichzeitig, in einem rasenden Sinkflug in ihre Nester hinter dem stürzenden Wasser einzutauchen. Alles ist wieder still, nur ein buntes Ara-Pärchen kreist noch über den Fällen.

      Der Wald um Kaieteur wurde seit jeher von den Patamona-Indianern bewohnt. Vor langer Zeit drängten Carib-Indianer in das Gebiet der Patamona, es kam zu Kämpfen zwischen den beiden Völkern. Immer wieder suchten ihre Anführer nach Möglichkeiten, die Konflikte beizulegen, doch der mühsam ausgehandelte Friede war stets von kurzer Dauer. Bei beiden Völkern galt das Gesetz, wenn ein Mensch einen Wunsch mit einem großen Opfer verknüpft, dann ist diesem Wunsch zu entsprechen. Als sich die Führer der verfeindeten Völker wieder einmal zu Verhandlungen trafen, führte Kai, der Häuptling der Patamona, sein Kanu zum Fluss, bat alle, dass Frieden zwischen den Patamona und den Carib herrschen möge, und ließ sich den Fluss hinuntertreiben, wo er mit dem gewaltigen Wasserfall in die Tiefe stürzte. Seit diesem Tag heißen die Fälle Kaieteur in der Sprache der Carib und Kaitok in der Sprache der Patamona und es herrscht Friede zwischen den beiden Völkern.

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      Kaieteur-Fall – Guyana

      Wochen- und monatelang bin ich nun mit meinem Rucksack kreuz und quer durch den Kontinent gereist und habe die Vielfalt seiner Attraktionen genossen. Ich habe die Idylle weißer Strände und die Farbenpracht fröhlicher Fischerdörfer erlebt, bin hinabgetaucht zu den bunten Riffen und düsteren Schiffswracks in den lauen Gewässern der Karibik, bin tagelang auf Dschungel-, Wüsten- und Bergpfaden gewandert und in kleinen Schritten immer weiter in den Süden gelangt, wo ich auf die höchsten Gipfel dieses farbenfrohen Kontinents steigen will. Wie sehr ich doch dieses Wechselspiel unterschiedlichster Erlebnisse genießen kann!

       CARIBBEAN ICE

      Hämmernde Klänge, die vibrierende Schwüle der karibischen Nacht! Bob Marley ist tot. Tot und allgegenwärtig! Regennass schlammige Wege, kaum bewohnbare Bretterverschläge, kleine Straßenbars – alles ist erfüllt von seiner Musik. Ein Saxophon begleitet die Stimme eines Sängers hinaus in die Dunkelheit der pulsierenden Nacht. „Stir it up, little darling, stir it up … “Der Herzschlag dieser kleinen karibischen Welt greift nach mir, lässt mich gänzlich in diesem Dasein aus Wärme, Ausgelassenheit und rhythmischen Klängen aufgehen. Ich genieße den lauen salzigen Atem des Windes auf meiner Haut.

      Zwei Schwarze, voll mit Bier und samstägiger Lebensfreude, versuchen ungeschickt ihr Brettspiel zu koordinieren, verwickeln mich in alkoholgetränkten Small Talk. Zwei Mädchen, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, laufen kichernd mit ihren Gingläsern hinunter ans Wasser, hocken sich dicht aneinandergeschmiegt auf ein Fischerboot, tuscheln, blicken hinauf zur Bar, suchen von dort Blicke einzufangen. Die kleinere der beiden hebt ihr Glas und prostet mir zu. Das Spielchen lässt mich kurz aus meiner Gedankenverloren heit erwachen, lachend erwidere ich den Gruß. Augenblicke später gleite ich wieder zurück in die alles umhüllende Musik, spüre den Takt wie die Wellen, die unweit von mir sanft in die flache Bucht branden.

      Die eisige Unendlichkeit der Andengipfel liegt weit hinter mir, nur wenige Tage zwar und doch kaum begreifbar fern. Erst jetzt spüre ich die lockere Weichheit meiner Muskeln. Wochenlang waren sie angespannt gewesen, um ein bisschen Wärme im Körper zu speichern. Erinnerung und Gegenwart verschmelzen ineinander. Ich genieße diese Ambivalenz, die das Dasein erst vollkommen schön macht. Dort der eisige Kampf in einer grandiosen, alles dominierenden Bergwelt, heute das Entkrampfen eines angespannten Körpers, das Öffnen der Ventile, das Hinausgleitenlassen der Kälte, das Einsaugen der Wärme des Meeres, der Klänge, des Pulses dieser schwülen Nacht.

      Unwirklich tauchen sie vor mir im Dunkel der Nacht auf, weiße und rote Flecken, gestaltlos. Langsam nehmen sie Konturen vor meinen Augen an – riesige Felder aus kleinen, mannshohen Eistürmen, dahinter steile, abweisende Felswände, die im Abendlicht ihren rötlich-goldenen Zauber auf die weiße Brandung des Wolkenmeeres ergießen. Hechelnde Atemlosigkeit wird in der eisigen Stille hörbar. Noch vor wenigen Tagen war dies die einzig denkbare Wirklichkeit in meinem Leben gewesen.

      Es ist totenstill hier draußen.


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