Sieben Welten - Seven Summits. Geri Winkler
in wenigen Stunden werden wir das neue Jahr begrüßen. Aus dem Dunkel der Nacht erstrahlt, hell erleuchtet, unser futuristisch anmutendes Mannschaftszelt in orange-farbenen Tönen – so als wäre gerade ein UFO in diesem schmalen Wüstental gelandet. Vor vier Tagen sind sie in Chile gelandet, meine fünfzehn Bergkameraden aus Europa, Zbigniew aus Polen ist der Leiter unserer Gruppe. Seit diesem Tag leben wir in der Atacama-Wüste, streunen kreuz und quer auf kaum erkennbaren Pisten in Pick-ups durch die Farbenpracht und Weite dieses einsamen Landes, bauen abends an idyllischen Plätzen unser Lager in den Wüstensand und begeistern uns an jedem Funken Leben, den wir in dieser ausgedörrten Welt entdecken können.
Fast unmerklich gelangen wir täglich einige 100 Meter höher, auf sanfte Weise gewöhnen wir so unsere Körper an die immer dünner werdende Luft. Der fast geruhsame Campingurlaub in einer der spektakulärsten Wüstenlandschaften der Erde wird uns besser auf unsere hochgesteckten Bergziele vorbereiten als stundenlanges, hartes Training in der Heimat. Unser kleines Zeltlager liegt auf mehr als 4000 Metern Höhe, heute haben wir unseren ersten Fünftausender bestiegen – kaum mehr als eine Halbtagestour.
Strandkneipe in Gros Islet, Saint Lucia
Bunt, warm, lebensfroh – das Flair der Karibik
Das neue Jahr hält Überraschungen vom Feinsten für uns bereit. Wir erreichen eine kleine Geländekuppe, unsere Fahrer halten an. Von hier öffnet sich ein überwältigender Ausblick: Vor uns erstreckt sich in einer Senke die malerische Laguna Verde. Ihr grün-blaues Wasser wird von einem zarten weißen, salzhaltigen Saum umfasst. Ein Meer winziger, gelber Pflanzen bedeckt den schwarzen Lavaboden. Rund um den See ragen 5000 und 6000 Meter hohe Berge in den Himmel. Ihre düsteren roten und schwarzen Farben werden vom strahlenden Weiß riesiger Büßerschneefelder belebt.
Ein Platz zum Träumen, an dem wir mehrere Tage verweilen werden. Am Seeufer, immerhin 4400 Meter hoch gelegen, bauen wir unsere Zelte auf. Der eisige Wind kühlt uns schnell aus, doch unsere Zuflucht ist nicht weit. Nur wenige Meter entfernt sprudelt heißes Schwefelwasser aus der Erde und sammelt sich in kleinen Becken. „Bewaffnet“ mit einigen Bierdosen tauchen wir in das fast 40 Grad warme Wasser ein.
Wenige Tage später erreichen wir die Basis des Ojos del Salado, des zweithöchsten Gipfels von Amerika und höchsten Vulkans der Erde – 6893 Meter. In zwei Tagen steigen wir durch schwarze Lavaasche hinauf zu seinem Kraterrand. Die feurige Glut ist vor Tausenden von Jahren erloschen. Nun weht eisiger Wind über die Höhen dieses Giganten. In leichter Kletterei gelangen wir hinauf auf den höchsten Punkt des Berges, der 1937 von einer polnischen Expedition erstbestiegen wurde. Erstbestiegen? Unweit des Gipfels hat man vor wenigen Jahren am Kraterrand Reste von Opferstätten aus der Inkazeit gefunden.
Nur drei Tage später stehen wir an der malerischen Laguna de los Horcones, überragt von der gewaltigen, fast 4000 Meter hohen Südwand des Aconcagua. Nun, die Südwand ist eine Nummer zu groß für uns, die werden wir bleiben lassen. Wir wollen den Berg nach Norden hin umwandern und dann auf ausgetreteneren Pfaden seinen Gipfel erreichen.
Der Berg bietet, zumindest auf den beiden Normalrouten, keine technischen Schwierigkeiten, ist beinahe eine Wanderung von der Straße bis zum Gipfel. Dennoch erreichen nur zwanzig Prozent der Gipfelaspiranten auch den höchsten Punkt, eine Erfolgsquote, die sogar unter jener des Mount Everest liegt. Wie ist das möglich? Der Aconcagua ist hoch, fast 7000 Meter, er ist kalt und wie kaum ein anderer Berg dieser Welt extremen Höhenstürmen ausgesetzt. Viele Bergsteiger haben einen viel zu engen Zeitrahmen für die Besteigung, oft nur vierzehn oder fünfzehn Tage. Das ist nicht viel, um den Körper an die große Höhe zu gewöhnen. Wenn dann noch Stürme mit 150 km/h oder mehr jede Aktivität am Berg für Tage lahmlegen, ist ein solch knapp bemessenes Zeitfenster bald abgelaufen, viele müssen absteigen, ohne überhaupt den Gipfel versucht zu haben.
Wir haben gar nur zehn Tage Zeit, um diesen Andenriesen zu besteigen. Dennoch haben wir keine schlechten Karten. Noch vor wenigen Tagen sind wir auf dem Ojos del Salado gestanden, nur knapp 70 Meter niedriger als der Gipfel des Aconcagua. An unsere Höhenanpassung brauchen wir keine Gedanken mehr zu verschwenden, wir können direkt zum Gipfel aufsteigen und müssen nur die Wettervorhersage im Auge behalten. Ich bin heilfroh. Die Normalroute, die wir für unsere Besteigung gewählt haben, ist nicht gerade spannend, und das für die Höhenanpassung übliche, mehrfache Auf und Ab auf diesem Weg wäre langweilig, vielleicht sogar nervenzehrend geworden.
Wir kommen schnell voran, halten uns aber an die üblichen Tagesetappen. So haben wir jede Menge Zeit, die beeindruckende Bergkulisse abseits der etwas eintönigen Wege zu genießen. In zwei Tagen wandern wir durch das Horcones-Tal zur Plaza de Mulas, dem von Hunderten Zelten bevölkerten Basislager des Aconcagua auf etwa 4250 Metern Höhe. Neben den bizarren Eistürmchen eines Büßerschneefeldes baue ich mit Martin unser Zelt auf. Wir strecken uns auf unseren Matten aus und starren hinauf zu unserem Berg. Die Abendsonne überzieht den Giganten mit einem rötlich-goldenen Schleier, unsere Augen haften fasziniert an diesem Spiel der Farben.
Schon am nächsten Morgen steigen wir mit schweren Lasten 1200 Meter höher, hinauf auf eine weite, offene Ebene, die Nido de Condores genannt wird und auf der wir unser Lager I errichten. Erstmals können wir die Gewalt der „zornigen Winde“ erahnen. Es sieht hier aus wie nach einem Bombenangriff. Ein Drittel der Zelte wurde durch die orkanartigen Böen zerfetzt, Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel liegen schutzlos und windgeschüttelt im Freien. Überall scheint Müll über die weite Fläche zu wehen, doch es ist kein Müll. Es sind die Habseligkeiten der Bergsteigerschar, die ihre Zelte in den „zornigen Winden“ verloren haben. Im besten Fall verhakt sich manches an Felsen oder Eisschollen, der Großteil aber weht hinunter über die Hänge, auf Nimmerwiedersehen. Wer sein Zelt und Teile seiner Ausrüstung hier oben verloren hat, muss seine Gipfelambitionen begraben.
In der Atacama-Wüste
Laguna Verde – Atacama-Wüste
Noch einmal steigen wir ins Basislager ab, um weiteren Brennstoff, Zelte für das Hochlager und Nahrungsmittel nach oben zu schaffen.
Anderntags steigen wir in zweieinhalb Stunden auf einem Trampelpfad vom Nido de Condores zum Campo Berlin auf, dem höchsten Lagerplatz am Aconcagua in 5900 Metern Höhe. Betreten sehen wir uns an. Das ist kein schöner Platz. Er ist eng, die Zelte kleben aneinander, überall bedeckt Müll den Boden, weit und breit sind keine Schneefelder zu erblicken, aus denen wir Trinkwasser gewinnen könnten.
Wir ziehen weiter und hoffen, höher oben einen geeigneten Lagerplatz zu entdecken. Etwa 100 Meter höher werden wir an den Piedras Blancas, den weißen Felsen, fündig. Umgeben von zauberhaften Felsformationen sind wir hier zwar nicht ganz so windgeschützt wie am Campo Berlin, dafür finden wir ausreichend Schnee zum Schmelzen vor. Wir sehen hinunter auf das Spiel der Wolken, das die große Schar der Vier- und Fünftausender umspült – eine einsame Aussichtsloge über der Welt.
Morgen wollen wir zum Gipfel. Martin und ich schmelzen unaufhörlich Schnee, um ausreichend „Saft“ für den langen Aufstieg zu haben. Wie so oft, kommt es anders als geplant. Am nächsten Morgen geht niemand zum Gipfel, wir nicht und auch sonst niemand. Ein Orkan rüttelt an unseren Zelten, wir wagen es kaum, unsere Nasen aus der windgeschüttelten Bleibe zu strecken. Warten – auf ruhigere Zeiten!
Auch am nächsten Morgen, es ist bereits der 18. Januar, herrscht alles andere als Windstille. Die Wetterprognose für die folgenden Tage verheißt noch Schlimmeres. Seit sechs Uhr morgens sind wir für den Gipfelsturm bereit, doch Zbigniew verschiebt den Aufbruch. Ratlosigkeit. Irgendetwas muss geschehen, sonst läuft auch uns die Zeit an diesem Berg davon. So gut vorbereitet sind wir gewesen, bestens akklimatisiert, sollten wir dennoch ohne Gipfel heimkehren müssen?
Um halb acht brechen