Sieben Welten - Seven Summits. Geri Winkler
dem „Warten auf Godot“ gleichen. Auf einem einfachen Serpentinenweg erreichen wir in zwei Stunden die Independencia-Hütte in 6350 Metern Höhe. Hütte ist ein großes Wort für diese Ruine aus freiliegenden Balken und Brettern. Ivan, ein Chilene, der uns begleitet und schon mehrmals den Gipfel erreicht hat, rät uns, schon hier die Steigeisen anzulegen. Weiter oben werden wir es nicht mehr schaffen. Ungläubig vernehme ich seine Kunde. Es ist weit und breit weder Schnee noch Eis zu sehen! Als ich knapp 100 Meter höher auf einem kleinen Rücken aus der Mulde ins freie Gelände trete, weiß ich, was er gemeint hat. Gewaltige Sturmböen reißen mich fast um. Wie gut, dass wir seinem Rat gefolgt sind. In diesem Orkan hätte ich wahrlich keine Steigeisen mehr anlegen können.
Laguna Horcones mit der mächtigen Südwand des Aconcagua
Aconcagua im Abendlicht
Hier beginnt die lange, technisch anspruchslose Traverse zur Canaleta, einer Rinne aus Blockgestein, die zum Gipfelgrat hinaufführt. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen den Wind, um nicht aus dem Pfad geschleudert zu werden. In der Mitte dieser Querung ragt eine kleine Felsnadel in die Höhe, die für einige Meter Schutz vor den Sturmböen bietet. Als ich in den Windschatten gerate, werde ich sofort hangabwärts zu Boden gerissen und gegen die Felsen gedrückt. Ohne es zu realisieren, habe ich mich beim Gehen so sehr gegen den Wind gelehnt, dass ich mich in den Momenten der Sturmpause gar nicht auf den Beinen halten kann. Leicht lädiert stapfe und kämpfe ich weiter. Drei unserer Kameraden machen hier in der Traverse Schluss, sie kehren um, sehen keine Chance mehr, den Gipfel zu erreichen.
Der Kampf mit den Naturgewalten kostet alle Kraft. Erst in der Canaleta findet unsere merklich dezimierte Gruppe ein windgeschütztes Plätzchen zur Rast. Noch liegt der Gipfel 350 Meter über uns, wir können ihn nur erahnen. Doch auch die steile Canaleta ist kein Ort, der die matten Glieder erfrischen kann. An kräftesparendes, rhythmisches Steigen ist hier nicht zu denken.
Riesige Schritte, kleine Sprünge, Stolpern über wackeliges Blockgestein, das saugt den letzten Saft aus unseren müden Körpern.
Über mir erblicke ich einen felsigen Sattel. Dort endet das zermürbende Blockwerk der Canaleta, dort beginnt der Guanaco-Grat, der die beiden Hauptgipfel verbindet.
Die Party kann beginnen! Unendlich langsam kämpfe ich mich den sanft ansteigenden Gipfelgrat nach oben. Zwanzig kleine Schritte, hechelnd, Pause! Und doch geht alles nun innerlich beschwingt, ich genieße diese letzten 100 Meter zum Gipfel. Sechseinhalb Stunden nach unserem Aufbruch stehen wir auf dem höchsten Punkt – dem Dach Amerikas – 6962 Meter über dem Meer. Der Kontinent liegt zu meinen Füßen.
Ich bin ausgelassen wie schon lange nicht, springe auf dieser unspektakulären Gipfelfläche von einem zum anderen und lasse die ganze Anspannung der letzten Tage und Wochen voll Freude in wenigen Minuten aus mir hinausfließen. Die Unwirtlichkeit des Ortes, den Wind und die Kälte nehme ich gar nicht wahr.
Eine Stunde auf diesem Plätzchen der Sehnsucht vergeht wie im Flug. Zbigniew, selbst in bester Laune, besinnt sich seiner Verantwortung als Leiter und mahnt uns, dem Spektakel ein Ende zu bereiten und endlich abzusteigen. Partytreiben in knapp 7000 Metern Höhe, da kann einem rasch die Luft ausgehen, auch wenn man es nicht wahrhaben will, und gerade das ist das Gefährliche daran. In Hochstimmung trete ich den Rückzug in tiefere Regionen an, am späten Nachmittag erreiche ich mit meinem Kumpel Martin unsere Zelte an den Piedras Blancas.
Feurig-golden erstrahlen die uns umgebenden Gipfel im Abendlicht. Vor dem Zelt saugen wir die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in unsere dauerkalten Körper ein. 3500 Meter tiefer erahnen wir unter einem Meer weißer Wolken die Straße zwischen Mendoza und Santiago de Chile. Dort wird in zwei Tagen unsere Besteigung des Aconcagua enden, dort werden wir zu den Annehmlichkeiten eines üppigen Lebens zurückkehren.
Die Beschaulichkeit währt nicht lange. Die Nachricht, dass in wenigen Stunden eine Schlechtwetterfront mit mörderischen Windgeschwindigkeiten über uns hereinbrechen wird, bereitet unserer wohlverdienten Ruhe ein jähes Ende. Noch einmal müssen wir unsere matten Glieder in Schwung bringen. Lager abbauen, alle Lasten in die zu unermesslicher Größe anwachsenden Rucksäcke verstauen, Abstieg. Tief in der Nacht erreichen wir das Basislager an der Plaza de Mulas.
In meiner Erinnerung werden die Schritte immer schneller und leichter, je näher wir den Häusern von Puente del Inca kommen. Das Lachen und die Lieder der Frauen und Kinder auf den Feldern, sie verklingen, verschmelzen mit den Stimmen und Rhythmen des Reggae hier an der Straßenbar. Bier, Gin, Pina Colada, alles verschwimmt, gestern und heute, nichts liegt dazwischen. Ich nippe am Glas und lasse die Gedanken treiben. Vor meinen Augen wird alles hell – gleißendes Licht, silbrig und golden und abweisend kalt strahlen die Eis- und Felsformationen meines Berges im Sonnenlicht, unendlich hoch über mir, wie unerreichbar. Langsam verblassen der Glanz und die Farben, sie werden sanfter, verlieren sich in der Erinnerung und in den leisen Wellen, die den Bootssteg nahe der Bar umspülen. Kurz verspüre ich die klare, kalte Luft, die von den eisigen Höhen herabweht, auf meinen Wangen. Augenblicke später wird sie lau, vermengt sich mit dem dumpfen, salzigen Atem dieser pulsierenden karibischen Nacht. „One love, one heart; let’s join together and I’ll feel alright …“
STÜRMISCHE PFORTE DER WELTMEERE
Landung in Punta Arenas im Süden von Chile! Ich betrete eine Welt, die ich im hohen Norden meines Heimatkontinents vermuten würde und die sich doch im tiefsten Süden der bewohnbaren Erde befindet. Einfache Holzhäuser in allen Farben und ohne Schnörkel – bunte Farbtupfen in einem nebelverhangenen, rauen Land mit windgepeitschten Fjorden, schroffen Felsen und weiten Ebenen mit kargem Bewuchs aus Moosen, Flechten und Gräsern. Nur das südliche Flair einiger Altstadthäuser erinnert daran, dass Spanier vor langer Zeit dieses kalte Land für ihre Krone gewinnen wollten. Es war eine Expedition über die Grenzen der damals bekannten Welt:
Vier Schiffe ankern an einem unwirtlichen Kap im stürmischen Atlantik. Noch nie waren Europäer so weit in den Süden unserer Erde vorgedrungen, doch von Entdeckerfreude ist nichts zu spüren. Die Vorräte sind knapp geworden und nirgends findet sich ein Ort, wo man sie auffüllen könnte. Weiter im Norden, da hatten sie noch Siedlungen vorgefunden, haben Nahrungsmittel von den wilden Bewohnern erworben, Menschen mit riesigen Füßen. Nach ihnen haben sie das Land auch Patagonien genannt1. Doch nun hat sich schon seit geraumer Zeit keine Gelegenheit mehr ergeben, mitgeführte Waren gegen Lebensmittel einzutauschen. Die Männer blicken hinaus auf eine weite Bucht, doch im Süden setzt sich dieses Land fort, immer weiter und weiter, ein Ende ist nicht zu erahnen. Wird denn dieser Kontinent niemals enden? Wird er in jenes geheimnisvolle Land am Ende der Welt einmünden, das die Gelehrten Terra Australis nennen? Noch nie hat es jemand zu Gesicht bekommen, riesige Berge aus Eis soll es dort geben – eine Welt, in der kein Überleben möglich ist.
Die Stimmung der Männer ist auf dem Tiefpunkt, doch nur wenige wagen es, den Ehrgeiz ihres von Entdeckungsdrang besessenen Anführers Magellan zu bremsen oder sich gar dagegen aufzulehnen. Er führt ein hartes und grausames Regiment.
Die Schiffe brechen auf, die riesige Bucht zu erkunden. Irgendwo muss es doch Menschen und Nahrungsmittel geben. Die Hoffnung sinkt, die Küsten sind menschenleer. Ohne zählbare Erfolge erreichen sie das Ende der Bucht. Das Ende der Bucht? Da führt noch ein schmaler Wasserarm weiter Richtung Süden.
Sie segeln hinein in den nur wenige Kilometer breiten Durchlass auf der Suche nach einem sicheren Ankerplatz, wollen