Sieben Welten - Seven Summits. Geri Winkler
ich auf den Abflug in eine Welt jenseits meiner Vorstellung. Hastig trinke ich eine Tasse Kaffee, lasse das Telefon nicht mehr aus den Augen. Es klingelt, ich stürze zum Apparat – Ernüchterung! Eisige Windböen fegen über die Blankeis-Landebahn an den Patriot Hills, an einen Abflug in die Antarktis ist nicht zu denken. Manche haben schon fünf Wochen hier in Punta Arenas im Süden Chiles auf ihren Abflug in die Antarktis warten müssen. Trübe Gedanken geistern durch meinen Kopf. Soll ich mich davon irremachen lassen, jetzt schon Nervosität zeigen am allerersten Tag unserer Expedition? Ich versuche gelassen zu bleiben, schlendere durch die Stadt und doch hält mich der weiße Kontinent in meinen Tagträumen gefangen. In drei Stunden soll ich wieder abflugbereit beim Telefon warten, um neue Informationen entgegenzunehmen. So finde ich mich in regelmäßigen Abständen zu den festgesetzten Zeiten in meiner Unterkunft ein, um auf den erlösenden Anruf zu warten. Eine Verschiebung folgt der anderen – Stillstand!
Die Abendstunden bringen Wetterbesserung am fernen Ende dieser Welt, das Warten hat ein Ende. Blitzschnell werden die Wartenden in Minibussen aus allen Ecken der Stadt eingesammelt. Ein einziges Flugzeug wartet auf dem verlassenen Flugfeld von Punta Arenas. Das Rot des schwindenden Tages lässt die riesige Iljuschin wie ein dunkles, geheimnisvolles Monster erscheinen, das uns in eine fremde Welt bringen soll.
Wir, gut dreißig Bergsteiger aus aller Welt, strömen zum Einstieg. Keine Gangway, keine komfortablen Sitzreihen! Die mächtigen Heckklappen stehen weit offen, so als sollen wir Winzlinge von dieser riesigen Maschine verschlungen werden. Wir klettern über eine Hühnerleiter und Unmengen von Fracht und verschwinden im schwach beleuchteten Bauch des Ungetüms. Auf den schmalen Klappsitzen an den Seitenwänden der Iljuschin schnallen wir uns fest und fühlen, dass das Abenteuer in einer unwirklichen Wirklichkeit bereits begonnen hat.
Mein Blick schweift die Sitzreihen entlang: Einige der ganz großen Namen aus der Bergsteigerwelt sitzen hier. Manche kenne ich bereits aus einschlägigen Büchern, Zeitschriften oder Filmen. In den nächsten Wochen werden sie meine Bergkameraden sein. Uns alle erwartet ein Abenteuer der ganz anderen Art – der 4892 Meter hohe Mount Vinson, der höchste Gipfel auf dem unwirtlichsten aller Kontinente.
Mitten in der Nacht landen wir auf der sechs Kilometer langen Blankeis-Runway von Patriot Hills. Nacht im eigentlichen Sinn werden wir hier aber nicht erleben, die Sonne wird auf diesem Kontinent erst Monate später wieder untergehen. Mit unseren schweren Rucksäcken zittern wir uns über die spiegelglatte Fläche und können kaum begreifen, wie unsere russischen Piloten die riesige Maschine hier haben landen können. Ein beheiztes Mannschaftszelt wird zum Zentrum des Lebens in dieser weißen Einsamkeit.
An einen Weiterflug zum Basislager des Mount Vinson ist nicht zu denken. Heftiger Wind wirbelt die dünne Schneedecke vom eisigen Untergrund in die Höhe, legt ein düsteres Antlitz über die unendliche Weite und macht einen Start der Maschinen unmöglich. Heute wird’s wohl nichts mehr werden, tönt es von den Verantwortlichen in der kleinen Wetterstation. Theo und ich wollen nicht länger untätig bleiben und steigen hinauf in die schwarzen Berge der Patriot Hills. Ein gewagter Ausflug! Fast hätten wir unseren Weiterflug ins Basislager verpasst. Kurzfristig hat es aufgeklart, der Wind hat nachgelassen, die beiden Flugzeuge haben bereits mit den ersten Teams abgehoben. Nur knapp eine Stunde ist uns noch im komfortablen Camp vergönnt. Eine schnelle Mahlzeit, hektisches Packen unserer Rucksäcke, wir sehen die beiden Maschinen im Anflug und eilen hinüber zur Runway.
Minuten später hebt unsere Twin Otter auf Schiern von der Startbahn ab und fliegt uns ins 250 Kilometer entfernte Basislager des Mount Vinson. Schon im Anflug auf die Ellsworth-Berge erleben wir die Faszination dieser einsamen Eiswelt. Das gestaltlose Weiß um Patriot Hills weicht hier in den Bergen der kunstvollen Architektur einer überwältigenden Gletscherwelt, deren Weiß im Spiel der Sonne und im Treiben wirbelnder Schneeflocken die verschiedensten Farbtöne annimmt. Meine Augen haften an dem wogenden Meer der Eisunendlichkeit, das die gewaltigen Berghöhen umspült. Es ist lange nach Mitternacht, doch was bedeutet der Blick auf die Uhr in einer Welt, in der es keine Dunkelheit gibt und in der keine Zeitzonen fühlbar sind.
Erste Gehversuche in den Bergen: weite Gletscherhänge, ein kleiner Gipfel mit spannendem Firngrat! Ein gewaltiger Knall durchbricht die Stille, ein heftiger Schlag durchzuckt wie ein Blitz die Eisdecke und reißt uns fast von den Beinen. Im Gletschereis hat sich über Jahre und Jahrzehnte eine ungeheuere Spannung aufgebaut. Nun bringen lächerliche 500 Kilogramm, das Gewicht von uns sechs Winzlingen, das mächtige Gebilde zur Entladung und zum Bersten.
Nach unserer Rückkehr gesellt sich die Bergsteigerlegende Vern Tejas mit seiner Mundharmonika zu unserer Runde. Ob wir denn schon einen Namen für unseren kleinen Gipfel hätten? Fragend sehen wir ihn an. Seit den ersten Tagen kommerzieller Expeditionen in den Ellsworth-Bergen verbringt er jeden Winter in dieser eisigen Kulisse und nun erzählt er uns, dass bisher noch niemand auf unseren formschönen Berg hinaufgestiegen ist. Eine Erstbesteigung? Wir können es kaum glauben.
Abends einigen wir uns auf eine Besteigungsstrategie für unser großes Ziel, den Mount Vinson: Einem Tag der Höhenanpassung mit kleineren Bergtouren lassen wir einen Tag des Vorwärtskommens am Berg folgen. Wir, das sind zwei Österreicher, ein Libanese, ein Japaner und ein Kanadier. Alle sind wir auf eigene Faust ohne Expeditionsveranstalter in die Antarktis gekommen, haben unsere Flüge direkt bei ALE, den Betreibern des Lagers von Patriot Hills, gebucht. Nach unserer Landung haben wir fünf Führerlosen uns schnell zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Zu unserer Überraschung werden wir im Basislager von Heather und Neil empfangen, die als Bergführer für ALE arbeiten und uns beim Aufstieg begleiten werden. Logistisch sind sie von großem Wert für uns, als Bergführer nehmen sie sich bescheiden zurück angesichts der großen Namen, die Theo Fritsche, Hisashi Hashimoto und Maxime Chaya in der Bergsteigerszene besitzen und die alle unserem kleinen Team angehören.
10 Kilometer auf mäßig geneigten Gletscherflächen sind bis zur Basis des Berges zu überwinden. Wir seilen uns an, das Terrain ist spaltenreich, wir binden uns die Schlitten an die Klettergurte und stapfen hinauf auf 3000 Meter Höhe, wo wir unser erstes Lager errichten. Auch frühere Expeditionen haben diesen Platz zu ihrer Bleibe erwählt und sie dürften hier viel Zeit verbracht haben. Kunstvolle Schnitzereien aus Eis zieren den Ort, der zudem unerwartete Leckereien unter seiner weißen Decke verbirgt. Viele Bergsteiger haben in vergangenen Monaten oder Jahren hier Nahrungsmitteldepots angelegt, die sie mit roten Fähnchen markiert haben. Nach dem Gipfelgang haben sie diese Köstlichkeiten hier im größten Kühlschrank der Welt zurückgelassen. Heather und Neil wissen bestens Bescheid, wo man zu suchen hat, um die karge Kost der mitgeführten Trockennahrung mit „frischem“, zehn Jahre alten Brot oder acht Jahre altem Käse aufzubessern. Für wenige Stunden verschwindet die Sonne hinter den Bergen, es wird bitterkalt, –45 Grad. Nur in unserem Daunenzeug können wir noch Gemütlichkeit finden, diese Zeit müssen wir zum Schlafen nützen.
Bergtour auf eine Passhöhe, fassungsloses Staunen: Unter uns liegt eine endlose Eisfläche, aus der eine schwarze Felspyramide herausragt, wie von Menschenhand geschaffen – ein Geschenk der Natur, passend zum heutigen Tag: Es ist Weihnachten!
Wir steigen durch steiler werdendes Gelände. Die Schlitten haben ihre Schuldigkeit getan, nun muss alles in die Rucksäcke umgepackt werden. Die letzten 500 Höhenmeter führen durch die 50 Grad steile Head Wall hinauf auf den Sattel zwischen Mount Vinson und Mount Shinn. Hier errichten wir bei eisigen Temperaturen unser windgeschütteltes Hochlager in 4000 Metern Höhe. 27. Dezember 2004, der sechste Tag am Berg – starker Wind, die Temperaturen sind in den Keller gefallen, die Sicht ist gut. Selbst im Zelt messen wir 29 Grad unter null. Das Eisschmelzen, Anziehen, Angurten wird zur eisigen Herausforderung. Den folgenden Aufstieg, völlig eingemummt, empfinden wir dann richtig angenehm. Schon an der ersten Steilstufe kommen unsere kalten Glieder schnell auf Touren. Über ein geneigtes Schneeplateau, das von den vielen Gipfeln des Vinson-Massivs umrahmt wird, geht es immer höher hinauf. Wind und Kälte nehmen zu. Wir hüllen uns komplett in Daune ein. Wie wird es wohl am windausgesetzten Gipfelgrat werden? Der Gipfelaufbau ist steil, wir ringen nach Luft – immer mehr und in immer längeren Pausen. Mehr als sechs Stunden sind wir schon unterwegs. Wir klettern über einige Felsen und sind oben – zumindest fast. Vor uns erblicken wir den schmalen Gipfelgrat des Mount Vinson, nur wenige Meter höher und doch noch eine halbe Stunde entfernt, können wir bereits den höchsten Punkt