Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Birgit Saalfrank

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin - Birgit Saalfrank


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der Volkshochschule. Ich wollte mich mit dieser Methode auf den Prüfungsstress des Abiturs vorbereiten. Ich war die Jüngste in dieser Gruppe und schrieb Martina in einem Brief, dass die anderen Leute ja »wirkliche Probleme« hätten, anders als ich. Offensichtlich hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem Essen und meine Angst vor dem Springen dabei völlig ausgeblendet, weil ich auch mit niemandem darüber sprach. Wenn meine Gedanken einmal nicht ums Essen kreisten, waren sie auf die Sprünge fixiert, vor denen ich Angst hatte.

      Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag passierte es, dass ich bei einem neuen Sprung gestreckt mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallte. Ein Gefühl wie ein Elektroschock ging durch meinen Körper, irgendwie mussten meine Nerven verrückt gespielt haben, und es tat sehr weh. Kurz nachdem ich aus dem Wasser geklettert war, zitterten meine Beine und konnten mich kaum mehr tragen. Ich schwamm noch ein paar Bahnen im Becken, übte ein paar einfache Sprünge und beendete dann das Training für diesen Tag. Bei einem Wettkampf wenige Tage später verweigerte ich diesen Sprung, ich traute mich einfach nicht. Umso erstaunter war ich, in meinem damaligen Tagebuch zu lesen, dass ich auch nach diesem Unfall eigentlich gar keine so große Angst vor dem Sprung hatte. Ich müsse nur einfach volle Pulle abspringen. Ich glaube, ich habe damals nach dem Motto gehandelt: Was ich nicht aufschreibe, existiert nicht. Wenn ich nicht von meiner großen Angst vor diesem Sprung schreibe, habe ich auch keine.

      Einmal war ich mit meiner Familie bei einer eigentlich sehr schönen Ballettaufführung von »Schwanensee« – ich bekam nur leider kaum etwas davon mit, weil meine Aufmerksamkeit nach innen auf meine Angstvorstellungen gerichtet war. Es gelang mir nicht, sie nach außen zu richten. Damit habe ich bei Theatervorstellungen oder Konzerten noch heute oft Probleme. An diesem Tag jedoch hatte ich wie so oft große Angst vor dem nächsten Training und versuchte diese mittels gedanklicher Vorübungen in Schach zu halten, anstatt mit jemandem über meine Ängste zu sprechen. In dieser Zeit kam meine Mutter zu mir und erzählte, Heiko hätte sie gefragt, ob es mir nicht gut gehen würde, ich würde in der letzten Zeit nicht gut aussehen. Sie habe ihm daraufhin sofort geantwortet, mit mir sei nichts, es gehe mir gut. Das ist schon seltsam: Mein Trainer sah mir an, dass ich litt, und er hatte recht – während meine Mutter, die kaum etwas von meinem Befinden wusste, trotzdem einfach behauptete, es gehe mir gut. Ich klärte sie nicht auf, denn sie hatte mich nicht nach meinem Befinden gefragt, sondern mir nur von dieser Begebenheit berichtet.

      Zu Hause litt ich sehr unter der angespannten Atmosphäre in unserer Familie. Ich erlebte sie als zerpflückt und zerstritten. Meine Mutter lud seit Jahren ihre Sorgen und Eheprobleme bei mir ab. Sie schätzte meine Fähigkeit, ihr zuzuhören und gut zuzureden. Nur für mich und meine Probleme war niemand da. Ich machte alles mit mir alleine aus, weil ich den Eindruck hatte, meine Mutter benötigte die Gewissheit, dass wenigstens ich mit allen Anforderungen zurechtkam. Ich war gut in der Schule, war im Leistungssport eingebunden und gab außerdem Nachhilfe. Meine Mutter bewunderte mich als Kind und Jugendliche immer sehr, da ich in ihren Augen sehr patent war und ihr sogar Tipps gab, wie sie sich verhalten solle. Diese Bewunderung war mir immer unangenehm, da ich sie nicht als zutreffend empfand und mich von ihr darin überhaupt nicht gesehen fühlte.

      Von meinen Ängsten und psychischen Problemen ahnte meine Mutter nichts. Das lag sicher zum Teil daran, dass ich sie ihr gegenüber nicht offen zeigte. Aber wie sollte ich das auch? Schließlich traute ich mich nicht, sie noch zusätzlich mit meinen Problemen zu belasten. Auf meinen Vater reagierte ich damals vor allem mit heftiger Wut und Abwertung seiner Person, übernahm dabei die Perspektive meiner Mutter, die seit Jahren sehr schlecht auf ihn zu sprechen war. Denn wegen ihm und seiner Berufsperspektive waren wir vor einigen Jahren nach Norddeutschland gezogen, wohin meine Mutter ihren Angaben zufolge nie hatte ziehen wollen. Leider hatten sich die beruflichen Möglichkeiten meines Vaters schnell zerschlagen, während meine Mutter inzwischen mit einer sehr ungeliebten Sekretariatstätigkeit für die Familie das Geld verdiente.

      Anders als in den Fachartikeln zu LMS beschrieben, war es bei mir nicht so, dass ich gar nicht mehr springen konnte. Mit großem Kraftaufwand und vielen Autosuggestionen schaffte ich es mit der Zeit, meine Ängste vor dem Springen einigermaßen unter Kontrolle zu halten, zumindest so weit, dass ich weiter springen konnte. Denn trotz meiner Ängste bedeutete mir das weiterhin sehr viel.

      Bei den Deutschen Jugendmeisterschaften im März 1989 in Köln stand ich vor dem ersten Sprung auf dem Sieben-Meter-Turm. Eine Stimme ertönte durchs Mikrofon: Einer der Kampfrichter gratulierte mir zum achtzehnten Geburtstag. Ich verbrachte ihn bei einem Wettkampf, das war eigentlich sehr passend für mein damaliges Leben. Vor den Deutschen Jugendmeisterschaften im folgenden Sommer in Lüdenscheid war ich springtechnisch sogar in einer sehr guten Form. Beim letzten Sprung meines ersten Wettkampfes kugelte ich mir jedoch wieder das linke Schultergelenk aus. Bei den Wettkämpfen der anderen Springer schaute ich in den folgenden Tagen zu, springen konnte ich selbst leider nicht mehr. Ich war demoralisiert: Jetzt war mir das schon zum zweiten Mal passiert! Je häufiger eine Luxation vorkommt, desto leichter passiert dasselbe wieder, auch ohne größere Gewalteinwirkung. Heiko redete mir gut zu und sagte: »Das wird schon wieder!« Ich erfuhr, dass man sich auch operieren lassen und danach wieder springen könne.

      Kurz danach traten zwei unserer Trainer mit sechs von uns Springern eine lang geplante Reise in die USA an, es war der Rückbesuch der Springer, die uns ein Jahr zuvor in Deutschland besucht hatten. Innerhalb von vier Wochen wohnten wir jeweils bei drei verschiedenen Gastfamilien in Pennsylvania und Virginia. Wir trainierten dort regelmäßig, lernten aber auch verschiedene touristische Attraktionen kennen und verbrachten gemeinsame Zeit mit unseren Gasteltern beim Barbecue. Natürlich konnte ich mit meiner Schulterverletzung nicht richtig mitmachen. Ich übte einfache Sprünge, bei denen man nicht kopfwärts tauchen musste, oder machte Krafttraining. Diese Reise in die USA war rundum gelungen und ein tolles Erlebnis! Ess­störungen hatte ich aber auch in dieser Zeit.

      Pläne

      Zurück in Deutschland begann mein letztes, dreizehntes Schuljahr. Ich überlegte, was ich nach dem Abitur tun wollte. Viele meiner Mitschüler hatten schon einen Plan für die Zeit danach, anders als ich. Also fing ich an, mich zu informieren, was für mich infrage kommen könnte. Es war völlig klar, dass ich studieren würde (meine Mutter und mein Vater und viele andere Verwandte hatten auch alle studiert) – die Frage war nur: Welches Studienfach? Mit meinen Eltern sprach ich inhaltlich (leider) nicht über diese Fragen, sie aber auch nicht mit mir. Sie schienen die Einstellung zu haben, dass die Studienwahl allein meine Angelegenheit sei – was ich damals ähnlich sah. Ich nahm jedoch das Angebot meines Vaters an, zwei Bücher zum Thema Studienwahl zu bestellen. Außerdem informierte ich mich beim Berufsinformationszentrum in Hannover und ging auch zu einem Berufsberatungsgespräch beim Arbeitsamt. Ich stellte fest, dass ich gerne etwas Naturwissenschaftliches studieren wollte. Infrage kamen Medizin, alternativ der damals recht neue Studiengang Haushalts- und Ernährungswissenschaften (Ökotrophologie) sowie Lebensmittel­chemie. Ich hatte Chemie als Leistungsfach in der Oberstufe, also waren insbesondere die letzten beiden Studiengänge recht naheliegend. Lebensmittelchemie schied aber aus, als ich erfuhr, dass dafür ein Numerus Clausus von 1,3 galt. Das würde ich nicht schaffen. Eine Zeitlang war ich überzeugt, dass Medizin für mich die richtige Wahl wäre, bis ich eine Liste mit Stichpunkten dazu schrieb, die meines Erachtens gegen ein Medizinstudium sprachen:

       Ich habe Angst, dass ich als Ärztin von morgens bis abends nichts anderes mehr tun werde, als zu arbeiten. Ich möchte neben meiner Arbeit auch noch genug Zeit für mich selbst haben.

       Meine Motivation zum Medizinstudium ist nicht in erster Linie, dass ich als Ärztin arbeiten möchte, sondern vor allem mein Interesse an den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern, die theoretisch den Menschen betreffen. Ich möchte nicht so gerne praktisch am Menschen arbeiten.

       Ich möchte nicht ständig in der Nacht arbeiten müssen und nicht ständig auf Abruf alles stehen und liegen lassen, um zu arbeiten.

       Ich möchte auf alle Fälle die Möglichkeit haben, mein Berufsleben von meinem Privatleben zu trennen, und das ist als Ärztin wahrscheinlich schwierig. Die Ärzte im Krankenhaus leben fast nur noch dort und haben kaum mehr Zeit für ihre Familie.

       Ich


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