Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Birgit Saalfrank

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin - Birgit Saalfrank


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ich mir in meiner Zielorientiertheit einfach Folgendes vor und notierte es in meinem Tagebuch als eine Art Mantra:

      Ich werde mir nie mehr den Arm auskugeln, sondern weiter jede Menge Krafttraining machen, genauso wie Bauchmuskelübungen wegen meiner Rückenschmerzen. Und das sage ich dir: Meine Rückenschmerzen werden weggehen und nicht mehr wiederkommen, auch während des nächsten Lehrgangs nicht! Und ich werde den nächsten Lehrgang voll normal und gut mitmachen, ohne dass mir irgendwas wehtut oder ich erkältet bin oder irgendwas Derartiges!!! Und dasselbe gilt für die Deutschen Jugendmeisterschaften!!! Alle beide in diesem Jahr und auch für die folgenden Jahre!!!

      Sozialkontakte hatte ich in dieser Zeit einerseits über das Springen, andererseits aber auch mit ein paar Mitschülerinnen, in deren Gemeinschaft ich sogar die Pausen in der Schule verbringen konnte. Was für ein Glück für mich! Gelegentlich trafen wir uns abends zum Kino oder zu anderen gemeinsamen Unternehmungen. Einmal wöchentlich gab ich außerdem einer jüngeren Schülerin Nachhilfe in Englisch und Mathematik und verdiente mir damit ein bisschen zusätzliches Geld. Nach der Schulterluxation begann ich nun wieder, nicht nur vom Einer, sondern auch vom Dreier zu springen. Sehr gerne mochte ich den Doppelsalto gehockt vom Einer. Ich sprang ihn hoch an, drehte schnell und streckte trotz geschlossener Augen immer zum rechten Zeitpunkt. Ich hatte nie Probleme mit der Orientierung bei diesem Sprung, sondern fühlte einfach, wenn die Doppeldrehung geschafft war. Erst einmal ging es mir also ziemlich gut. Nach einiger Zeit geriet ich jedoch in große Schwierigkeiten.

      Diesen Text über meine Jugend zu schreiben, kommt mir am schwierigsten vor. Das liegt daran, dass große Diskrepanzen bestehen zwischen meinen Erinnerungen einerseits und dem, was ich andererseits in meinen beiden Tagebüchern lese. Ich erinnere mich vor allem an psychische Zustände, die ich offenbar nicht mit meinem Tagebuch geteilt habe. Ich schätze, ich wollte sie dort nicht verewigen, sondern dachte, wenn ich sie nicht weiter beachte, gehen sie vielleicht von selbst wieder weg. Was aber nicht der Fall war.

      Beim Springen hatte ich seit Neuestem oftmals Angst. Wenn ich Angst vor einem bestimmten Sprung hatte, spürte ich, wie mein Körper sich bewegte, aber ich war nicht mehr da. Es fühlte sich an, als ob mein Körper sich ferngesteuert von mir bewegen würde und ich mit dem Sprung gar nichts zu tun hätte. Das war immer ein sehr erschreckendes Gefühl, als ob ich nicht mehr die Kontrolle über meinen Körper hätte oder nicht mehr in meinem Körper wäre. Wie ich später erfuhr, nennt man diesen Zustand Depersonalisation.

      Phasenweise litt ich unter Schlafstörungen, schreckte nachts hoch und ging immer wieder in einer Art von zwanghaften Gedanken beziehungsweise Bildern und Körpergefühlen den Doppelsalto vorwärts durch, bei dem ich irgendwann ganz plötzlich die Orientierung verloren hatte. Ich hatte zu viel nachgedacht über diesen Sprung. Das war so, als ob ein Tausendfüßler beginnt, darüber nachzudenken, wie er es eigentlich schafft, die Bewegung seiner vielen Beine miteinander zu koordinieren – und plötzlich verknoten sich daraufhin seine Beine, weil er versucht, eine unbewusst gut funktionierende Bewegung bewusst zu steuern. Ich fing an mich zu fragen, woher ich eigentlich wusste, wann die beiden Drehungen beim Doppelsalto vorwärts geschafft waren, wenn ich immer die Augen geschlossen hatte. Unser Trainer sagte uns schließlich, dass wir die Augen beim Springen stets offen haben sollten, um die Körperdrehungen mit dem Blick aktiv kontrollieren zu können. Als ich das jedoch versuchte, klappte gar nichts mehr. Ich wusste im Flug überhaupt nicht mehr, wo ich war. Dazu kam, dass ich seit einiger Zeit den Schraubensalto vorwärts übte, das heißt, den Salto vorwärts mit einer ganzen Schraube vom Ein-­Meter-Brett beziehungsweise eineinhalb Salto vorwärts mit einer Schraube vom Drei-Meter-Brett. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie man einen Vorwärtssalto ohne eine zusätzliche Schraubendrehung sprang. Ich hatte das Gefühl dafür komplett verloren. Sehr beeinträchtigend war zudem, dass ich mich nur bei unserem Trainer Heiko sicher fühlte, aber oft bei anderen trainieren musste. Wenn Heiko neben mir stand, hatte ich das Gefühl, er würde mir sein ganzes Vertrauen und die Fähigkeiten dazu einflößen, meine Sprünge gut zu bewältigen. Ich fühlte mich wie abhängig davon, bei ihm zu trainieren, als ob er allein über die Kraft verfügte, mich gut springen zu lassen. Alleine hätte ich mich zum Beispiel nie getraut, meine Sprünge zu trainieren, davor hatte ich viel zu große Angst. Bei meinen anderen Trainern hatte ich dieses positive, unterstützende Gefühl deutlich weniger ausgeprägt. Ich benötigte die Anwesenheit und ungeteilte Aufmerksamkeit von Heiko, damit ich überhaupt mit dem notwendigen Vertrauen in meine Fähigkeiten meine Sprünge absolvieren konnte.

      Im Philosophieunterricht hatten wir für ein Halbjahr das Thema »Zeit« im Unterricht. Das beschäftigte mich sehr. Wenn ich zu Hause war und Angst vor dem nächsten Training hatte, dachte ich oft darüber nach, dass ich zum Beispiel in sechs Stunden Springtraining gehabt haben würde. Dann wäre die Zeit vergangen, und ich hätte es geschafft.

      Vor jedem Training erhielten wir von Heiko einen Plan, was wir an diesem Tag trainieren sollten. Wenn ich meine Serie sah, die ich springen sollte, hatte ich große Angst. Gleichzeitig wusste ich, dass ich sie bald gesprungen haben würde. In dieser Zeit litt ich sehr stark unter den genannten Selbstentfremdungsgefühlen beim Springen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es in meiner Macht liegt, die Sprünge zu steuern, sondern dass mein Körper das irgendwie alleine ohne mich hinbekommen muss.

      Kürzlich schaute ich abends einen Livestream der Trampolin-Wettkämpfe der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016. Der Reporter unterhielt sich mit einem Fachmann und plötzlich fiel der Ausdruck »Lost move syndrome (LMS)«. Ich wurde hellhörig und recherchierte im Internet, was damit gemeint war. Dort stieß ich auf einen Fachartikel aus dem Jahr 2015 von Jenn Bennett und anderen Forschern über LMS. Es tritt demzufolge vorzugsweise bei Sportlern aus dem artistischen Formenkreis (Kunstturnen, Wasserspringen, Trampolinspringen) auf. Ganz plötzlich verlieren erfahrene Sportler die Fähigkeit, ein bestimmtes automatisiertes Bewegungsmuster auszuführen, zum Beispiel eine Salto- oder Schraubendrehung. Diese Unfähigkeit hat emotionale, kognitive und andere schwerwiegende Folgen. Der Betroffene hat eine ausgeprägte Angst vor der Übungssequenz, auch Ärger, Frustration und Ohnmachtsgefühle kommen vor. Er kann sich im Geist nicht mehr vorstellen, wie man zum Beispiel einen bestimmten Sprung absolviert. Wenn er daran denkt, visualisiert er nur missglückte Sprünge. Beschrieben wird auch das Gefühl, dass jemand anderes als man selbst die Kontrolle über den Sprung hat. Zudem haben die Betroffenen kein Gefühl mehr für die Lage des eigenen Körpers im Raum. Negative Gedanken kreisen im Kopf und können zu Schlafstörungen führen. Der erlebte Vertrauensverlust in sich selbst kann ausgeprägte Selbstzweifel zur Folge haben. Viele betroffene ­Athleten müssen ihren Sport deswegen aufgeben.

      All das kam mir so bekannt vor! Zum ersten Mal nach fast dreißig Jahren fand ich in diesem Artikel eine Beschreibung der Zustände, die ich selbst so schmerzlich und angstvoll beim Wasserspringen erlebt hatte. Das kannten also auch andere. Und es gab sogar eine Bezeichnung dafür!

      Als ich siebzehn Jahre alt war, bekam unsere Springergruppe für mehrere Wochen Besuch von Springern aus den USA. Mit diesen zusammen fuhren wir zu einem Lehrgang nach Italien. Trotz meiner Ängste, meiner Schwierigkeiten bezüglich der Orientierung im Raum und meiner wiederkehrenden Depersonalisationserlebnisse trainierte ich – mal besser mal schlechter – weiter meine Sprünge.

      Wir sprangen im Freibad von Villafranca in Lunigiana in der Toskana, besichtigten aber auch den schiefen Turm von Pisa und die Marmorsteinbrüche von Carrara. In dieser Zeit in Italien war ich teilweise sehr aufgekratzt und gab mich kontaktfreudig und extravertiert. Aus meiner heutigen Sicht befand ich mich damals sehr in meinem »falschen Selbst« – ein Ausdruck, den Alice Miller in ihrem Buch »Das Drama des begabten Kindes« beschreibt. Für mich bedeutete das: Meine Mutter hatte mir immer gesagt, dass es wichtig sei, dass man lustig und fröhlich sei und die anderen Menschen durch interessante Erzählungen mitreißen und dadurch Interesse für sich wecken müsse. Das tat ich nun in Italien. Kurz danach fuhr ich mit meinen Eltern und meiner Schwester für drei Wochen nach Österreich zum Wandern. Während des Urlaubs gab es regelmäßig Streit in der Familie. Ich war gereizt und dachte häufig ängstlich an meine Sprünge beim Training. Im Freibad unseres Urlaubsorts übte ich gelegentlich Salto vorwärts vom Beckenrand. Ich hatte Angst, dass ich das Gefühl für das Springen noch mehr verlieren würde, als es ohnehin schon der Fall war, wenn ich jetzt nicht dranblieb mit Üben. Meine Unbeschwertheit war komplett


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