Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Birgit Saalfrank

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin - Birgit Saalfrank


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Geräte aufgebaut werden, also zum Beispiel das Reck, das Pferd, der Schwebebalken oder auch Matten für das Bodenturnen. Zu Anfang der Stunde liefen wir eine Weile im Kreis herum und machten Dehnübungen, um warm und beweglich zu werden. Dann übten wir an den Geräten und bekamen Rückmeldung und Verbesserungsvorschläge von unserer Trainerin Frau Göckler. Manchmal sprangen wir auch auf dem großen Trampolin oder übten auf dem kleinen mit Anlauf verschiedene Sprünge, zum Beispiel Strecksprung oder Hocksprung oder später auch Salto. Die anderen Kinder duzten Frau Göckler nach einiger Zeit und nannten sie liebevoll »Göcki«. Ich verstand, dass es gut wäre, wenn ich das auch täte, weil dieser Kosename eine gewisse Vertrautheit mit unserer Turnlehrerin ausdrückte. Um es den anderen Kindern gleichzutun und mich nicht ausgeschlossen zu fühlen, bemühte ich mich darum, Frau Göckler so anzusprechen, aber es fühlte sich immer fremd an, ich fühlte mich dabei fremd, und das blieb auch so.

      Am Wochenende fuhren wir manchmal zu Wettkämpfen in unserer Region. Ich mochte diese Stimmung von Konzentration, Spannung und Leistungsbereitschaft sowie die Hallen mit den ganzen aufgebauten Geräten darin. Besonders aufgeregt war ich nicht bei Wettkämpfen, nur etwas angespannt und konzentriert.

      Zu Pfingsten fuhr unser Turnverein immer mit allen Kindern, die daran teilnehmen wollten, ins Zeltlager nach Laubuseschbach. Auf dem dortigen Campingplatz wurden zwei oder drei sehr große Zelte aufgebaut, in denen wir zu mehreren schliefen. Einmal bin ich auch mit dabei gewesen. Ich fühlte mich dort aber sehr fremd, konnte mit den Spielen im Wald nicht wirklich viel anfangen. Die anderen Kinder meines Alters – Martina war auch mit dabei – massierten den älteren Mädchen, die im Turnen unsere Vorbilder waren, oft im Zelt den Rücken. Dazu konnte ich mich nun wirklich nicht durchringen, also beobachtete ich dieses Treiben aus sicherer Entfernung. Ich verstand auch nicht, wozu das gut sein sollte. Ich fühlte mich im Zeltlager verloren und völlig fehl am Platz. Einmal teilzunehmen reichte mir, ich bin danach nie wieder mitgefahren.

      Empathie

      Ich möchte gerne noch etwas darüber erzählen, wie meine Eltern auf Schmerzen oder Unfälle reagiert haben und wie ich selbst als Kind mit Schmerzen umgegangen bin.

      Beim Brennball in der Schule bekam ich einmal den kleinen Lederball direkt auf meinen Ringfinger. Das tat sehr weh, der Finger war geschwollen und es dauerte ziemlich lange, bis die Schwellung zurückging. Aber wenn ich Schmerzen hatte, sagte meine Mutter immer nur: »Es tut einem schon mal etwas weh, das geht schon wieder weg.« Damit war die Sache erledigt. Zum Arzt ging man deswegen nicht.

      Als ich etwa sieben Jahre alt war, quetschte mir Martinas Mutter versehentlich den Finger in der schmiedeeisernen Vorgartentür unseres Hauses. Sie reagierte ganz betroffen, wandte sich mir zu und entschuldigte sich. Das war eine ganz eindrückliche emotionale Erfahrung für mich. Ich erlebte dadurch zum ersten Mal, dass jemand mit mir mitfühlte.

      Als ich neun Jahre alt war, hatten wir einen Autounfall in der Stadt. Ich hatte davon einen dicken Bluterguss am Schienbein, der mit der Zeit in allen Farben leuchtete. Meine Mutter fragte mich nie, ob das wehtat. Meine Turnlehrerin, Frau Göckler, dagegen schon. Als ich nach dem Autounfall zum Turnen ging, fragte sie mich, wie es mir gehe. Ich horchte erstaunt auf: Das kannte ich nicht von zu Hause. Mich hatte noch nie jemand mitfühlend gefragt, wie es mir geht. In meiner Familie wurde nicht über Gefühle und das eigene Befinden gesprochen. Ich erinnere mich auch an kein einziges Mal, dass ich wegen Krankheit nicht zur Schule gegangen wäre. Das gab es irgendwie nicht, krank zu sein.

      Mit vierzehn habe ich meine Cousine Franzi im Schwarzwald besucht. Sie war geübt im Skifahren. Ich dagegen hatte nur ein paarmal auf Skiern gestanden. Franzi fuhr vor mir einen Abhang hinunter und bedeutete mir, es ihr gleichzutun. Bei der Abfahrt knickte ich jedoch um und spürte einen heftigen Schmerz im rechten Knöchel. Wieder zu Hause angekommen, war mein Fuß dick geschwollen und blieb es über einige Tage. Bei einer Routineuntersuchung einige Jahre später fragte mich ein Arzt, ob ich am rechten Fuß schon einmal einen Bänderriss gehabt hätte, da mein Fußgelenk in einer Richtung überbeweglich war. Das muss genau diese Verletzung gewesen sein. Jedenfalls ist meine Mutter auch bei diesem Unfall nicht mit mir zum Arzt gegangen.

      Als Gegensatz zum Erlebnis mit dem gequetschten Finger passierte es mir einmal, dass ich mich zu Hause beim Gemüseschneiden in der Küche mit einem Messer verletzte. Der Finger blutete, ich hatte mich ordentlich geschnitten. Doch anstatt mich an meine Mutter zu wenden, lief ich aus der Küche und versteckte mich, da ich Angst hatte, von ihr deswegen ausgeschimpft zu werden.

      Was ich sagen will, ist, dass ich in meiner Kindheit nur selten erlebt habe, dass meine Mutter auf meine Verletzungen oder Schmerzen mit Mitgefühl reagiert hätte. Sie tat alles als bedeutungslos ab, im Sinne von: Stell dich nicht so an! Später wusste ich deshalb auch nicht damit umzugehen, wenn andere Menschen empathisch mit mir waren.

      Mein Vater reagierte in solchen Situationen noch einmal anders. Mit etwa elf Jahren war ich beim Radfahren auf unserer Straße gestürzt, dabei über den Lenker gefallen und hatte mir sehr wehgetan. Ich klingelte daraufhin zu Hause, mein Vater war da und drückte auf. Mir gelang es zuerst gar nicht, das Gartentor zu öffnen, weil ich unter Schock stand, sehr zitterte und keine Kraft in den Armen hatte. Endlich oben angekommen, sah mein Vater mich ganz erschrocken an. Er ließ sofort Badewasser für mich ein und setzte mich in die Wanne. Danach bekam ich überall Pflaster aufgeklebt. Er reagierte also vor allem ganz praktisch auf meine körperlichen Blessuren und versorgte mich diesbezüglich. Andere Eltern hätten ihr Kind vielleicht erst einmal in den Arm genommen und getröstet.

      Als ich etwa zehn war, kamen wir am Morgen nach einer heftigen Regennacht in die Turnhalle. Die Decke war undicht und es hatte sich in einer Ecke eine große Wasserlache gebildet, die man aber nicht sah. Ich rutschte darauf aus und fiel mit dem Hinterkopf und dem Rücken direkt auf den Boden – und stand auf, als sei nichts passiert. Die Sportlehrerin war zu Anfang sehr besorgt, da ich jedoch gleich aufstand, ließ sie mich in Ruhe. Ich traute mich nicht, über Schmerzen zu klagen (die ich natürlich hatte), da mir klar war, dass sich die Sportlehrerin dann um mich gekümmert hätte. Aufgrund meiner mangelhaften Erfahrung mit Empathie hätte ich nicht gewusst, wie ich mit ihrer emotionalen Zugewandtheit umgehen sollte. Außerdem hätte ich es nicht ertragen, vor allen anderen Kindern im Mittelpunkt zu stehen. Glücklicherweise ist mir damals offensichtlich nichts wirklich Schlimmes passiert. Im Nachhinein denke ich, ich hätte ja auch eine Gehirn­erschütterung oder eine Blutung im Kopf davontragen können.

      Noch ein Beispiel, wie in meiner Familie mit psychisch belastenden Situationen umgegangen wurde: Als ich mit neun zufällig bei meinen Großeltern zu Besuch war, starb mein Großvater. Ich hatte keine besonders enge Beziehung zu ihm gehabt, aber vorher noch nie einen Toten gesehen. Meine Mutter weckte mich an diesem Morgen und teilte es mir mit. Ich strahlte sie an, weil ich überzeugt war, dass sie einen Witz gemacht hatte, was aber nicht der Fall war. Ich zog mich an und wurde ohne weitere Erklärung in das Schlafzimmer meiner Großeltern geführt, in dem nun mein toter Opa lag. Das machte mir Angst. Auch danach wurde nicht weiter mit mir über den Todesfall gesprochen. Später bin ich immer mit großer Furcht in dieses Zimmer gegangen, wenn ich für meine Oma etwas holen musste, und konnte den Geruch darin nicht ertragen.

      Bei der Beerdigung waren viele Leute, und alle weinten. Ich sah die Menschen, verstand aber nicht, warum sie weinten, denn meine eigene Stimmung war neutral. Als wir den Friedhof verließen, hob ich eine rosa Nelke auf und legte sie zu Hause in ein dickes Liederbuch zwischen die Seiten zum Trocknen. Das war meine Erinnerung an den Tag der Beerdigung.

      Kurz danach hatte ich einen Traum: In unserer Wohnung kam mein Opa mir hinterher und versuchte mich zu greifen, ich lief weg und hatte große Angst vor ihm. Leider sprach niemand mit mir über meine Gefühle, die der Tod und die Beerdigung bei mir auslösten, sodass ich niemandem meine Angst mitteilen konnte. Auf die Idee, es meinen Eltern gegenüber von mir aus anzusprechen, kam ich nicht. So musste ich das alles mit mir alleine ausmachen.

      Selbstständigkeit

      Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Martina besuchte eine andere Schule, sodass wir nicht in derselben Klasse waren. Ich ging


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