Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin. Birgit Saalfrank

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin - Birgit Saalfrank


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In der ersten Pause standen alle Klassenkameraden auf dem Schulhof in einem großen Kreis um mich herum und amüsierten sich über meine Aussprache. In Hannover ist man ja besonders stolz darauf, dass dort das reinste Hochdeutsch gesprochen wird. Ich hatte wohl einen leicht hessischen Einschlag, den ich mir dann aber bald abgewöhnte. Die Reaktion auf mich war nicht eigentlich bösartig, ich wurde einfach neugierig von allen beäugt. Trotzdem war das enormer Stress für mich, dort so im Mittelpunkt zu stehen. Weil ich recht gut in der Schule war, guckte das Mädchen, das neben mir saß, oft von mir ab. Wenn ich jedoch etwas von ihr wissen wollte, hielt sie immer die Hand schützend vor ihr Heft. Ich war deshalb einmal so wütend, dass ich ihr – ehe ich mich versah – den Ellenbogen in die Seite rammte. Ich hatte schneller zugehauen, als ich denken konnte. Das ist mir aber nur ein einziges Mal passiert.

      Meine Mutter sagte mir, dass es wichtig sei, Freundinnen zu finden, um jemanden zu haben, wenn es einem mal schlecht geht. Also versuchte ich, in meiner Klasse Kontakte zu knüpfen. Ich lud ein beliebiges Mädchen zu mir nach Hause ein. Zum Spielen waren wir mit unseren dreizehn Jahren inzwischen zu alt. Also saßen wir in meinem Zimmer und versuchten, uns miteinander zu unterhalten. Ich wusste nicht, wie das ging, also überlegte ich mir Fragen, die ich ihr stellen konnte, zum Beispiel: »Was ist deine Lieblingsfarbe?« »Was ist dein Lieblingstier?« Das Gespräch geriet zu einem langweiligen Frage-Antwort-Spiel. Ich habe mich nie wieder mit diesem Mädchen verabredet.

      Am Ende der siebten Klasse fuhren wir eine Woche an die Nordsee. Da ich mit den gleichaltrigen Mädchen nichts anfangen konnte, spielte ich immer Fußball mit den Jungen. Bei der Klassenfahrt in der achten Klasse ging es an den Edersee. Ich erinnere mich, dass ich dabei vor allem Rundlauf beim Tischtennis mitspielte und außerdem Federball, also immer sportlichen Betätigungen nachging, die es nicht erforderten, dass man sich mit seinen Klassenkameraden unterhielt. Denn das konnte ich nicht, ich hätte nicht gewusst, worüber ich mit ihnen reden soll.

      In meiner Klasse war ein Mädchen, das ich sofort sympathisch fand. Jenny war meine erste Freundin, mit der ich mich auch unterhalten habe. Wir waren beide sehr sportbegeistert, gingen zusammen zum Leichtathletiktraining und sprachen häufig über unsere Väter, an denen wir viel auszusetzen hatten.

      Eigentlich war ich aber nur Jennys zweitbeste Freundin. Denn ihre beste Freundin hieß Babette. Sie kannten sich schon seit ihrer Kindergartenzeit. Unsere Englischlehrerin gab uns einmal die Aufgabe, eine Geschichte über unseren besten Freund beziehungsweise unsere beste Freundin zu schreiben. Das war beschämend für mich, denn Jenny war zwar meine beste Freundin, ich aber nicht ihre. Das zeigte sich auch immer wieder bei Klassenfahrten, wenn es darum ging, wer neben ihr im Bus sitzen durfte. Das war natürlich Babette. Ich versuchte immer so zu tun, als machte mir das alles nichts aus, aber ich litt schon ziemlich darunter, nur »zweite Wahl« zu sein.

      Gelegentlich ging ich mit Jenny ins Kino. Sie machte sich immer lustig über mich, weil ich mir die verschiedenen Menschen, die im Film mitspielten, nicht merken konnte und deshalb regelmäßig Probleme hatte, die Handlung zu verstehen. Ich litt unter Prosopagnosie (Gesichtserkennungsschwäche), vor allem in Bezug auf Fernsehen und Kino, im realen Leben hatte ich damit nicht so große Probleme. Insbesondere die Männer konnte ich kaum auseinanderhalten, da sie für mich aufgrund ihrer kurzen Haare alle gleich aussahen. Bei Menschen aus anderen Kulturkreisen, zum Beispiel Asiaten, hatte ich dieses Problem auch im realen Leben: Die Männer hatten meist kurze, die Frauen lange schwarze Haare. Zudem waren die Augen- und Nasenformen jeweils ähnlich. Ich fragte mich: Wie konnte man diese Menschen voneinander unterscheiden?

      In der Schule interessierten mich einerseits Sprachen (Englisch und Französisch) und andererseits Naturwissenschaften, hier vor allem Chemie. Ich hatte von Anfang an eine wunderbare Chemielehrerin, die uns Jugendlichen dieses Fach mit sehr einfachen bildhaften Beispielen vor Augen führte. So erklärte sie uns, dass bestimmte Atome »einander mögen« und deshalb eine Verbindung miteinander eingehen. Folgerichtig verwendete ich in einer Klassenarbeit ihre kindlichen Formulierungen, wurde dann aber von ihr korrigiert: So etwas dürfe ich doch nicht schreiben! Aber sie hatte es doch so gesagt?! Das verstand ich nicht, hielt mich fortan jedoch daran und schrieb nichts mehr über Sympathien und Antipathien von Atomen und Molekülen. Trotz dieses Zwischenfalls fand ich meine Chemielehrerin weiterhin sehr gut.

      Auch Mathematik mochte ich gern, weil ich mir das alles gut vorstellen konnte. Ganz anders als Geschichte und Sozialkunde, da bekam ich keine Bilder in den Kopf und hatte demzufolge große Schwierigkeiten, Begriffe wie zum Beispiel »Judikative« oder »das Kaiserreich« oder »Weimarer Republik« mit ihren jeweiligen Aufgaben beziehungsweise Inhalten zu verstehen und mich für diese Themen zu interessieren. Jahreszahlen waren mir ein Gräuel. Ich verband nichts damit. Ich hätte eine konkrete Geschichte benötigt, die sich um eine bestimmte Person in einem bestimmten Zeitalter rankt, damit ich Interesse an diesen Fächern entwickelt hätte. Nicht nur Zahlen und bildlose Fakten.

      Der Sport war in meiner Gymnasialzeit meine Rettung. Wer im Schulsport bei den Besten war, hatte gute Chancen, von der Klassengemeinschaft akzeptiert zu werden. So gewann ich Pluspunkte. Auch in den übrigen Fächern war ich ganz gut. Ich war ehrgeizig und lernte gern. Durch meine Leistungen hatten die Lehrer Achtung vor mir. Deshalb konnte ich mich, da ich ein starkes Gerechtigkeitsempfinden hatte, auch manchmal für meine Mitschüler einsetzen, ohne mir Strafen einzuhandeln. Zum Beispiel hänselte unsere Englischlehrerin häufiger Schüler, die schlecht in Englisch waren oder die sie aus anderen Gründen nicht leiden konnte. Das fand ich nicht gut und sagte das auch laut in der Klasse. Einmal wurde ich deswegen aus dem Klassenraum geschickt, aber weiter passierte nichts.

      Jenny und ich waren knapp drei Jahre lang gute Freundinnen. Anfangs verbrachten wir jede große Pause miteinander. Das war eine schöne Zeit. Eines Tages steckte uns jedoch eine Mitschülerin einen Zettel zu, auf dem stand, wir sollten uns nicht immer so von der Klassengemeinschaft ausgrenzen. Ich erschrak, schämte mich und war verunsichert: Anscheinend war es nicht in Ordnung, wie wir uns verhalten hatten.

      Mit Jenny verband mich in dieser Zeit auch die Schwärmerei für unseren jungen Trainer in Leichtathletik. Wir stellten uns vor, dass wir uns beim Sport verletzten und er würde sich um uns kümmern. Schwärmerei eben, mehr war das nicht, zumindest nicht für uns. Auf ähnliche Weise schwärmten wir für unsere Sportlehrerin.

      Einige Zeit danach fing Jenny jedoch an, sich ernsthaft für Jungen zu interessieren. Genau wie damals in der fünften Klasse Miriam entwickelte sich Jenny jetzt durch die Pubertät weiter – anders als ich, die ich mich weiterhin hauptsächlich für Schule und Sport interessierte, aber nicht für romantische Beziehungen. Bald danach hatte Jenny einen Freund. Dadurch wurde sie mir völlig fremd, ähnlich wie ich ihr vermutlich auch, weil sie nicht verstehen konnte, dass ich meine sportlichen Aktivitäten in dieser Zeit eher noch intensivierte. Unsere Freundschaft zerbrach, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Andere Freundschaften hatte ich nicht, also war ich wieder einmal sehr alleine in der Schule.

      Leidenschaft

      Im Alter von vierzehneinhalb ging ich häufiger im nahe gelegenen Hallenbad zum Schwimmen. Gerne hätte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal die Sprunganlage genutzt, aber sie war immer besetzt von den Kunst- und Turmspringern, die dort am Nachmittag trainierten. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich fragte, ob ich mittrainieren könne. Ich durfte und es gefiel mir sehr gut. Es fiel mir auch vergleichsweise leicht, da ich wegen meiner Turnerfahrung bereits über ein gewisses Maß an Körperspannung und Körperkontrolle verfügte.

      Fortan ging ich regelmäßig zweimal die Woche zum Springen. Freitags ins Hallenbad, mittwochs in die Turnhalle. Hier gab es innen an einer Seitenmauer eine Vorrichtung, an der man ein Sprungbrett montieren konnte. Von dort aus sprang ich auf eine dicke Matte und übte sozusagen auf dem Trockenen.

      Sehr bald intensivierte ich mein Training und nahm an den ersten Wettkämpfen teil. Nach etwa einem Jahr trainierte ich bereits jeden Tag, dazu kamen häufig Lehrgänge am Wochenende. Unser hauptverantwortlicher Trainer hieß Heiko und war der damalige Bundestrainer der Wasserspringer. Viele seiner Schützlinge zählten zu den besten bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Er behandelte seine Springer insgesamt sehr unterschiedlich. Zu einigen war er sehr streng und fasste sie


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